»Wir hätten mutiger sein müssen«
Die Ökonomin und Ex-Ministerin Christa Luft im Gespräch über die Lage der Wirtschaft am Ende der DDR, die Treuhandanstalt und wo man im Ministerium Brot kaufen kann. Ein Beitrag aus dem OXI-Archiv.
Am 13. November 1989 wurde Hans Modrow beauftragt, eine neue Regierung zu bilden. Hat er Sie am gleichen Tag gefragt, ob Sie seine Wirtschaftsministerin werden?
Nein, am 13. November wusste ich noch nichts von meinem Schicksal. Am 14. lud mich der Kaderdirektor des DDR-Ministerrates telefonisch für den Folgetag zu einem Gespräch mit Hans Modrow ein. Der Grund war wohl, dass ich an der Hochschule für Ökonomie mit anderen zusammen an einem Wirtschaftsreformkonzept arbeitete. Wir hatten dazu den ganzen Herbst über sonnabends öffentliche Foren angeboten, die stets großen Zuspruch fanden. Einige im Saal, zumeist in Partei- oder Staatsämtern, gaben sich allerdings pikiert, wenn sie hörten: Wir brauchen den Bruch mit Kommandostrukturen, mehr Eigenverantwortung der Kombinate und Betriebe, Demokratisierung der Wirtschaft …
Und wie ist es dann konkret abgelaufen?
Ich hatte in meinem Leben eine Reihe von Kadergesprächen, da saß dann jeweils jemand von der Partei, der Gewerkschaft, von der Frauenkommission, ein Protokollant. Mit Hans Modrow saß ich ganz allein in einem Raum. Ich hatte ihm 14 Studien mit Reformüberlegungen geschickt. Das Paket lag auf seinem Tisch, und ich nahm an, er wolle darüber mit mir reden. Er aber sagte geradeheraus: »Ich brauche dich in der Regierung.« »Hans«, habe ich geantwortet, »für Späße ist die Zeit zu ernst.«
Was haben Sie in dem Moment gedacht?
Wie kommst du aus dieser Nummer raus? Ich werde überhaupt nicht mehr zu Hause sein. Meine Kinder werden mich mehr im Fernsehen sehen als zu Hause, mein Mann ist auch viel unterwegs, und wir werden abends kein Stück Brot im Kasten haben. Darauf Modrow: »Mit deinem Mann und den Kindern rede ich. Eine Kantine haben wir hier im Haus, da kaufst du in der Mittagspause dein Brot für zu Hause.« Ja habe ich zu seinem Ansinnen nicht gesagt, aber ein striktes Nein brachte ich auch nicht fertig. Am 17. November standen wir auf der Bühne, mein zweiter Sohn hatte an dem Tag Geburtstag, und die Journalistenschar fragte uns, wie wir die ökonomische Lage sehen.
Was haben Sie denen erklärt?
Ich wusste als Rektorin der Hochschule für Ökonomie natürlich mehr als die Menschen, denen nur die Zeitung zur Verfügung stand. Und gerade über die Verschuldungssituation der DDR haben wir uns an der Hochschule entgegen der Order des zuständigen Ministeriums – Statistiken werden nur mit DDR- oder RGW-Quelle genutzt – Informationen anderweitig besorgt. Zum Beispiel von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel. Und dort war zu lesen, die DDR hat 10 Milliarden Dollar Schulden. In den statistischen Jahrbüchern der DDR stand: Der Export entwickelt sich so, der Import so und wir haben einen großen Überschuss. Ich habe einem französischen Journalisten gegenüber die 10 Milliarden Dollar Schulden genannt. Das stand am nächsten Tag in der Zeitung »Liberation«. Gerhard Beil, damals Minister für Außenhandel, kam und sagte zu mir: »Mädchen (!), die Zahl kannst du glatt verdoppeln.« Das war ein Schock. Ein Dollar entsprach damals 1,88 DM.
Die Lage war unerhört angespannt, aber im November 89 konnte trotzdem niemand genau wissen, wie sehr.
Wie sehr, habe ich erst im Laufe der darauffolgenden Wochen mitbekommen. Dass die Produktionsanlagen in einem Teil der Industriebetriebe älteren Datums waren, wussten wir. Auch Umwelt- und andere Probleme waren nicht verborgen. Den allergrößten Schock allerdings habe ich erst Mitte 1992 erlitten. Ich schrieb damals meinen Treuhandreport für den Aufbau Verlag und war oft im Archiv dieser Behörde. Da lief mir eines Tages deren Pressesprecher über den Weg und zeigt mir ein Schriftstück, die Kopie einer geheimen Verschlusssache, betitelt »Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen«. In Auftrag gegeben von Egon Krenz als neuem Generalsekretär der SED, verfasst von Alexander Schalck-Golodkowski, Gerhard Schürer, Gerhard Beil, und drei weiteren hochrangigen »Insidern« der DDR-Wirtschaft, wurde sie am 31. Oktober 1989 im SED-Politbüro beraten und bestätigt. Von diesen 25 Seiten, die es in sich hatten, hatte ich nie zuvor gehört.
In der Analyse hatte gestanden, dass der Lebensstandard der Bevölkerung 1990 um 25-30 Prozent gesenkt werden müsse, um allein die explodierende Westverschuldung zu stoppen.
Richtig. Da stand im ersten Teil auch, was unter schwierigen äußeren und inneren Bedingungen in den vergangenen Jahrzehnten in der DDR alles geschaffen wurde. Das konnte man alles unterschreiben. Im zweiten Teil wurden die Probleme aufgelistet: veraltete Grundmittel, Umwelt, Ersatzteile, Bevölkerungsversorgung mit Hightech-Artikeln … Und 49 Milliarden DM Schulden. Wenn wir allein die Verschuldung stoppen wollten, müssten wir, hieß es da, im Jahr 1990 die Inlandsversorgung um 25-30 Prozent kürzen, um gegen harte Devisen zu exportieren. Das würde die DDR unregierbar machen. Das Fazit: Uns geht es nicht gut, wir müssen mit vielen, auch kapitalistischen Ländern, darunter der BRD, mehr zusammenarbeiten. Und der BRD bieten wir an, als Zeichen der Hoffnung und der Perspektive, im Jahr 1995 zu prüfen, ob sich die Hauptstadt der DDR und Berlin (West) um die gemeinsame Durchführung der Olympischen Spiele im Jahre 2004 bewerben sollten. Und wörtlich: »Dabei schließt die DDR jede Idee von Wiedervereinigung mit der BRD oder der Schaffung einer Konföderation aus.« Neun Tage später macht Schabowski, der bei dieser Beschlussfassung mit den Arm gehoben hatte, die Grenze auf. Da war alles, was wir bis dahin vorbereitet hatten, obsolet. Man kann die Wirtschaft nicht reformieren, wenn man von außen eine offene Flanke hat. Das im Nachhinein zu lesen, hat mich umgehauen. Ich dachte, schon mit meinen Zahlen aus Basel wüsste ich mehr als alle. Aber die in der Geheimanalyse genannten Zahlen waren der absolute Hammer.
Am 21. November 1989 unternahm der Präsident der DDR-Staatsbank noch einmal den Versuch, eine Art Bilanz zu erstellen. Da wurden Gebäude, Maschinen und Anlagewerte mit rund 570 Milliarden Mark veranlagt. War das eine Zahl, mit der Sie arbeiten konnten?
Es gab damals verschiedene Schätzungen. Aber die bezogen sich auf den Substanzwert. Wir kannten doch den Marktwert damals nicht. Niemand konnte sagen, was der Erlös wäre, verkaufte man das. Grund und Boden stand mit einer Mark pro Quadratmeter in den Bilanzen. Rohwedder, der zweite Treuhandchef, schätzte den Marktwert des in seiner Regie befindlichen »Salats« auf 600 Milliarden DM.
Franz Steinkühler, Vorsitzender IG Metall, warnte Mitte November vor dem Ausverkauf der DDR. Die DDR-Mark wurde 1:15 getauscht, gleichzeitig wurden hoch subventionierte Waren abgekauft, auch von Menschen aus Westdeutschland. Hatten Sie trotzdem das Gefühl, auch nur den Zipfel einer Chance zu haben?
Wir hatten keine Illusionen. Wir wussten, es wird schwierig, aber wir wollten das Schiff fahrtüchtig halten. Die ersten zwei Monate glaubten wir auch, es ist zu schaffen, wenn wir Zeit bekommen. Auch westdeutsche Ökonomen warnten, dass eine anstehende Reformierung der Wirtschaft Jahre braucht. Ein Hauruckverfahren führe in die Katastrophe. Am 6. Februar 1990 kam Bundesbankpräsident Pöhl zu uns und wollte wissen, wie wir die Wirtschaftsreform voranbringen. Er sagte, erst müsse die Wirtschaft reformiert und saniert werden, bevor man irgendwas auf dem Währungssektor verändert. Dann steigt er nach diesem Gespräch in Köln-Bonn aus dem Flugzeug und hört, dass Kohl im Bundestag gerade eine Rede hält und der DDR-Bevölkerung die Währungsunion anbietet. Der Mann war entsetzt.
Dann waren Hans Modrow und Sie eingeladen, im Februar nach Bonn zu kommen.
Das war sozusagen der Gegenbesuch, nachdem Kohl in Dresden war. Als wir in Schönefeld abflogen, lag für jeden von uns die neue Ausgabe des Magazins »Spiegel« auf dem Tisch. Dort hatte Kanzleramtsberater Horst Teltschik unter Nutzung von Horrorzahlen aus der genannten Geheimanalyse mit perfektem Timing einen Leitartikel platziert. Die DDR steht kurz vor der Pleite, so der Tenor. Entsprechend war dann in Bonn die Stimmung. Die hatten die Einzelheiten aus dem Schürer-Papier, man sollte besser sagen, Schalck-Golodkowski-Papier, und bedeuteten uns, wir wären doch am Ende. Ein konstruktiver Meinungsaustausch hatte keine Chance. Die Gegenseite hatte ein festgefügtes Urteil. Im Übrigen gab es für den Bereich Komerzielle Koordinierung von Schalck-Golodkowski eine eigene Zahlungsbilanz. Die war in dem genannten Geheimpapier von Ende Oktober 89 gar nicht eingespeist. Denn in dieser Bilanz waren mehr Forderungen als Verbindlichkeiten. Bei konvertierbaren Währungen. Dadurch senkte sich schon recht frühzeitig die veröffentlichte Schuldensumme. Außerdem hatte Schürer später, befragt zu diesen Zahlen, gesagt: Wir wollten im Politbüro mal einen richtig kräftigen Aufschrei loslassen, damit sich was verändert. Aber solche Beweggründe wurden im Nachhinein nicht zur Kenntnis genommen. Schürer galt dem Westen als Kronzeuge. Im August 1999 kam dann ein in grünes Leinen gebundener Bericht der Deutschen Bundesbank über »Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989« heraus. Danach belief sich die Verschuldung der DDR in konvertierbarer Währung am 30. Juni 1990, also einen Tag vor der Währungsunion, auf 19,9 Milliarden DM. Die Außenstände der DDR gegenüber der Sowjetunion, anderen sozialistischen und einigen Entwicklungsländern waren nicht mitgerechnet.
Das muss doch für Sie zum einen eine späte Genugtuung gewesen sein, vor allem aber noch einmal die Enttäuschung genährt haben.
19,9 Milliarden DM. An so was stirbt kein Staat.
Hans Modrow hat in seiner Regierungserklärung versprochen, dass Ihre Regierung den Versuch wagen wird, die Wirtschaft zu reformieren. Dann mussten Sie feststellen, dass die ohnehin nicht einfache Lage aus politischen Erwägungen heraus schlimmer geredet wurde. Gab es Stimmen der Vernunft in diesen kurzen Monaten?
Wir waren beauftragt, in dieser instabilen Wetterlage das Schiff einigermaßen auf Kurs zu halten. Intern haben wir darüber geredet, dass alles von Tag zu Tag schwieriger wird. Zumal ja auch so viele Menschen wegliefen. Die Arbeitskräfte in den Betrieben fehlten, es gab Angriffe auf sowjetische Kasernen. Jeden Morgen, wenn wir ins Büro kamen, lagen auf dem Tisch stapelweise Telexe, die von den Ereignissen der vergangenen Nacht berichteten. Nur Feuerwehrarbeit. In Berlin streikten kurz vor Ende November die Müllfahrer. Ich ging in der Zeit von meiner Wohnung in der Spandauer Straße zu Fuß zur Arbeit. Ein ekliger Tag mit Nieselregen. Die Müllfahrer standen unten und wollten mit dem Regierungschef reden, der war nicht in Berlin. Der für Kommunales zuständige Minister von der LDPD wollte nicht an seiner Statt gehen, also musste ich runter. Die Forderung der Müllfahrer war an diesem Freitag: Wir wollen ab nächsten Montag den gleichen Lohn wie unsere Westberliner Kollegen. Es war aussichtslos, so etwas zuzusagen. Also habe ich im Haus einen großen Saal organisiert, Kaffee und Tee geordert und alle reingebeten. Dann saßen sie da, tranken etwas Warmes. Ich konnte nicht versprechen, was die wollten. Wir haben uns geeinigt, eine Kommission zu bilden, die in der kommenden Woche aushandeln würde, was geht. Aber sie drohten noch mal: Wir holen die ganze Woche den Müll nicht ab, ihr werdet ersticken im Müll. Also bevor wir anfangen konnten, überhaupt die dringend notwendigen Reformen einzuleiten, haben wir Feuerwehrarbeit machen müssen. Und wir waren froh, wenn wir mal wieder ein Feuer gelöscht hatten.
Wäre mehr Zeit gewesen und der politische Druck nicht so groß, hätte sich also aus Ihrer Sicht die Wirtschaft reformieren lassen.
Die Wirtschaft hatte große Schwächen. Aber durchgängig marode, wie gern bis heute kolportiert, war sie nicht. Sie war nicht wettbewerbsfähig gemessen am produktivsten europäischen Land, der BRD. Gemessen an einer Reihe anderer kapitalistischer Länder, die es heute noch gibt, sehr wohl. Das wird gern vergessen. Dass die Treuhand dann alles, was in vierzig Jahren aufgebaut worden war, innerhalb von vier Jahren plattgemacht hat, hängt doch damit zusammen, dass überhaupt nicht sortiert wurde, was da war an Werten. Noch in der zweiten Hälfte der 80er Jahre importierte die DDR aus Japan, Österreich, Italien, Frankreich hochmoderne Anlagen für viele Industriebereiche. Aber wenn man denen von einem Tag auf den anderen die Märkte wegnimmt, kann man darauf produzieren, was man will. Das Ergebnis ist null. Und so ist es gewesen. Die haben sich die Werkzeugmaschinen angeschaut, die teilweise noch aus den 20er Jahren stammten und mit denen dennoch was Anständiges produziert wurde. Und darauf ihr Urteil gegründet. Es ist eine Mär, dass alles marode war. Ich denke mir überhaupt, der Begriff »marode« ist entstanden, als Westdeutsche manche DDR-Innenstädte gesehen haben und die waren ja wirklich marode. Aber kaum jemand von denen war jemals in einem modernen ostdeutschen Industriebetrieb. Westdeutsche Manager, die sich auskannten, haben das schon differenzierter betrachtet.
Aber wenn man sich zum Beispiel die Entwicklung der Akkumulationsrate in der DDR anschaut, da ist doch in den Jahren zuvor wirklich viel schiefgelaufen.
Das war uns nicht verborgen. Wir hatten uns schon an der Hochschule viel damit beschäftigt, dass die Akkumulationsrate im einstelligen Bereich lag. So was lässt sich nicht von heute auf morgen ändern. Aber uns war auch klar, wenn man solche Projekte, wie den 1-Megabit-Chip mit so viel Aufwand betreibt, muss das so kommen. Diesen Chip hätte die Sowjetunion mit links machen können, als Abfallprodukt ihrer Militärtechnik. Als der dann endlich fertig war, betrug der Weltmarktpreis gut vier DM, die DDR hatte 50 Milliarden Mark für seine Entwicklung aufgewendet.
Was wollten Sie tun, welche Vorschläge hatte die Modrow-Regierung?
Wir waren dafür, dass die Unternehmen endlich mehr Eigenverantwortung bekommen. Dass sie die Gewinne, die sie erwirtschaften, nicht komplett ans Ministerium abgeben müssen, um dann zu betteln, wenn sie selber Investitionen vorhatten. Wir haben durchgerechnet, was notwendig wäre, um einen Grundmittelstand zu haben, der wirklich als wettbewerbsfähig gelten kann. Wir waren schon auf der Spur. Aber ohne Abbau der überzentralisierten Planung – nicht Absage an Planung – wäre das nicht gegangen. Dieses System war von der Sowjetunion importiert. Dort unter völlig anderen Bedingungen entstanden, damals gar nicht anders möglich. Ein so großes Land brauchte lange einen straffen Zentralismus. Aber zu fragen, ob die relativ kleine DDR das so kopieren kann, das wäre notwendig gewesen.
Wäre es zu irgendeinem Zeitpunkt vor dem Herbst 1989 denkbar gewesen, daran etwas zu ändern?
Denkbar schon, aber unter der gegebenen politischen Konstellation nicht. Es gab unten Frust und Unzufriedenheit, auf dem Weg nach oben wurden kritische Informationen gefiltert. Die Kombinatsdirektoren waren doch nicht dumm. Die drangen nur nicht durch mit ihren Forderungen und Vorschlägen. Allerdings, als die Modrow-Regierung sich mit ihnen im Dezember 1989 traf, da war das eine ziemlich aufgebrachte Truppe. Alles sollte schneller gehen. Ich habe in der Beratungspause zu manchen gesagt: »Wisst ihr, ich erinnere mich an die Feldgottesdienste, die Günter Mittag immer bei der Leipziger Messe mit euch veranstaltet hat. Und da habt ihr jedes Mal noch Zusatzverpflichtungen abgegeben, obwohl ihr gerade eure Pläne gemacht hattet.«
Sie haben weg von der ganz zentralen Planwirtschaft in eine andere Richtung gedacht?
Natürlich. Weg von dem Wust an Plankennziffern, Bilanzanteilen, Richtungskoeffizienten und was es alles gab. Das hat doch Initiative erstickt. Bei Weiterexistenz der vorherigen Regierung wäre das kaum angefasst worden. Das System war viel zu starr.
Haben Sie in der Modrow-Regierung in Erwägung gezogen, einen Teil oder gar Großteil der Subventionen zu streichen? Ein Kilo Salami kostete in der DDR 10,80 Mark und der Staat schoss 13,99 Mark zu.
Damit haben wir sehr früh begonnen, wir haben uns fast jeden Abend mit Hans Modrow im Johanneshof getroffen, nach der Arbeit. Eine der ersten Überlegungen war: Wir müssen an dem Preissystem was ändern. Das hat eher Verschwendung statt Effizienz stimuliert. Das krasseste Beispiel war das Verfüttern billigen Brotes an Hühner. Und bei offener Grenze kam es zu massenhaftem Abverkauf subventionierter Waren und Dienstleistungen wie Kinderbekleidung, Bücher, Schallplatten, Speiseangeboten in Restaurants und so weiter durch Westbesucher. Unsere Position war aber auch: Wenn es zu Preiserhöhungen für Alltagsgüter kommt, dann müssen Löhne, Renten, Stipendien und so weiter entsprechend aufgestockt werden. Das wurde von den Medien kaum kommuniziert. Stattdessen hieß es: Modrow macht jetzt auch auf Preiserhöhungen. Selbst eine Preisanhebung für Blumen und Sträucher erregte die Gemüter.
Es klingt, als hätten Sie zu keinem Zeitpunkt auch nur die geringste Chance gehabt.
Uns war schon klar, wie die von Mai auf März vorgezogenen Wahlen ausgehen werden. So entstand ja auch der Treuhandgedanke. Wie im Sturz. Bis dahin waren wir überzeugt: Wir ändern vieles in der Wirtschaft. Vor allen Dingen wollen wir wieder einen Mittelstand aufbauen, der ja in der DDR ab 1972 ruiniert worden ist. Wir haben Gewerbefreiheit auf den Weg gebracht, eine Joint-Venture-Verordnung gemacht, für die wir viel beschimpft worden sind, wollten die enteigneten halbstaatlichen und privaten Betriebe zurückgegeben, wenn die früheren Eigentümer oder deren Erben das wollten. Wir wollten aus Kombinaten die Bereiche herauslösen, die nicht zum Kerngeschäft gehören – Transportabteilungen, Bauabteilungen. Das war unser Konzept. An eine Privatisierung der Infrastruktur und der Schwerindustrie haben wir nicht gedacht. Deshalb tauchte in unserem Wirtschaftsreformkonzept das Wort Treuhand auch gar nicht auf. Das kam erst ins Gespräch, nachdem klar war, dass die Wahlen am 18. März zu einer Regierung führen werden, die anders aussieht als die gegenwärtige. De Maizière mit seiner CDU und die Allianz für Deutschland hatten ja auch schon verkündet, dass sie für die ganz schnelle Vereinigung mit der BRD sind. Und so kam es dann auch.
Hätten Sie trotzdem noch mutiger sein können?
Wir hätten mutiger sein müssen, den Menschen in der DDR zu sagen, was alles getan werden kann und getan werden muss. Wir hatten aber auch keine fertigen Konzepte, die wir hätten präsentieren können. Dazu kam: Die Führung der Sowjetunion, für die die DDR vierzig Jahre lang das Faustpfand gewesen war in der Auseinandersetzung mit dem Westen, zog Stück für Stück die Hand von der DDR weg. Das zeigte sich nicht nur in der horrenden Steigerung der Erdölpreise und ihrer Forderung, dass wir ihnen nicht länger Erdöl gegen transferable Rubel abkaufen, um es dann zu veredeln und die Produkte im Westen gegen hartes Geld abzusetzen. Das wollten die nicht mehr. Die Ungarn und die Polen konnten nicht schnell genug in die Marktwirtschaft kommen. Ich war noch im Februar 1990 nach Budapest gefahren, um die Ungarn an ihre Zusage zu erinnern, uns Ikarus-Busse zu liefern, die wir dringend brauchten. Und ich fuhr ohne die Busse nach Hause, weil die Ungarn die nun gegen Dollar absetzen wollten. So war die Lage. Und: Der Westen, Kohl und seine Mannschaft, mischte jeden Tag mit. Als das D-Mark-Angebot kam, war doch kaum noch jemand zu halten.
Gab es eine alternative Überlegung zur Institution Treuhand?
Der Begriff Treuhand ist durch den Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt) in die Debatte gekommen. Wir wussten, dass dies ein juristisches Konstrukt ist, um Eigentum vom Staat wegzunehmen und von Dritten verwalten zu lassen. Aber wir wollten ja das Volkseigentum nicht privatisieren. Darum kam bei uns dieser Begriff nicht vor. Ullmann forderte gegen Ende Februar, das Volkseigentum zu entstaatlichen durch Vergabe von Anteilen an die DDR-Bürger. Das war die Idee. Die Ost-SPD fand das auch gut.
Wie fanden Sie den Vorschlag?
Emotional stand ich der Sache sehr nah. Es waren ja Menschen von hier, die alles geschaffen haben. Aber, in drei Wochen sollten die Wahlen stattfinden, und die Idee war: Am Wahltag bekommt jeder einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem seine Anteile stehen. Da hätten wir eine Zahl draufschreiben müssen, ohne den Marktwert zu kennen zu dem Zeitpunkt, da die das einlösen wollen. Wer sollte wie viel bekommen? Die nicht mitarbeitende Zahnarztgattin genauso viel wie der unter Tage malochende Kalikumpel? Es waren doch überhaupt keine Fragen gelöst. Dann gab es noch die Idee, einen Teil in einen Staatsfonds einzulegen. Obwohl ich die Idee nachvollziehen konnte: Das Problem war doch, die DDR-Wirtschaft brauchte eine Modernisierung, die kostete viel Geld. Und wenn Eigentum verschenkt wird, hat man gar nichts. Man riskiert nur, wie es dann in Russland geschah, dass die Voucher, auf denen stand, wie viel Rubelchen er oder sie bekommt, früher oder später, meist früher, eingelöst werden. Kaufen werden Leute, die Geld haben. So entstanden dann Imperien bildende Oligarchen, nicht selten einstige Funktionäre der KPdSU und des Komsomol. Die Volksaktie war unter gegebenen Umständen keine tragfähige Idee.
Sie wollten das Volkseigentum erhalten.
Ja, im Interesse der Allgemeinheit. Das war der Auftrag der ersten Treuhand. Wir wollten durch Erhalt und Effizienzerhöhung des Volkseigentums und die Zulassung weiterer Eigentumsformen die Grundlage dafür schaffen, dass Menschen ihr Einkommen durch Arbeit verdienen können. Genau das ist dann unter der durch die De-Maizière-Regierung gegründete Treuhand nicht geschehen. Die hatte einen anderen Auftrag: rasche Privatisierung des Volkseigentums. Die fatalen Folgen sind bis heute spürbar.
Prof. Dr. Christa Luft war in der Wendezeit in der DDR Wirtschaftsministerin und stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates in der Modrow-Regierung. Der blieben gerade vier Monate, das Unmögliche zu versuchen. Kathrin Gerlof sprach mit der Wirtschaftswissenschaftlerin, die von 1988 bis 1991 Rektorin der Berliner Hochschule für Ökonomie war.
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