»Wir wollen Schulden repolitisieren!«
Schulden sind ein Gewaltverhältnis und müssen aus einer intersektionalen Perspektive betrachtet werden. Interview mit der Feministin Lucí Cavallero.
Sie bearbeiten das Thema Verschuldung aus feministischer Perspektive. Das ist kein gängiger Blick auf dieses Thema, denn Schulden erscheinen zunächst geschlechtsunspezifisch. In Ihrem Ansatz jedoch beschreiben Sie Schulden als eine Art Gewaltverhältnis. Was ist gemeint?
In der feministischen Bewegung haben wir mit dem Slogan »Wir wollen leben, frei und schuldenfrei sein« gearbeitet, der etwas über den gewaltsamen Charakter von Verschuldung aussagt: Er stellt eine Verbindung her zwischen der Möglichkeit, ein finanziell unabhängiges Leben zu führen und der Abhängigkeit, die durch Verschuldung hervorgebracht wird. Unter prekären Bedingungen verschuldet zu sein ist das Gegenteil von einem Leben, das frei von Gewalt ist.
Wir betrachten Verschuldung auf zwei Ebenen: Einerseits, wie die Aufnahme von Staatsschulden in Ländern des Globalen Südens zu einer Austeritätspolitik führt, die sich auf besondere Weise auf das Leben von Frauen auswirkt. Zum Beispiel durch die Kürzung von Geldern für öffentliche Einrichtungen, die mehr unbezahlte Arbeit von Frauen zur Folge haben, mehr Arbeit im informellen Sektor, niedrigere Löhne… Und zugleich gibt es eine gewaltsame Beziehung zwischen diesen Austeritätsprozessen und der Notwendigkeit, sich für grundlegende Bedarfe, für das alltägliche Leben zu verschulden.
Aber auch in dem, was Schulden für den Alltag bedeuten, liegt eine gewaltsame Komponente: Schulden bedeuten, nicht ‚Nein‘ sagen zu können, wenn wir ‚Nein‘ sagen wollen. Viele Frauen, Lesben und trans Personen befinden sich in gewaltsamen Beziehungen oder in Räumen – wie ihrem Zuhause – aus denen sie nicht ausbrechen können, weil sie verschuldet sind. Daher ist es wichtig, von Gewalt zu sprechen, wenn wir von Schulden sprechen. Zunächst wegen der gewaltsamen Auswirkungen auf den Alltag, aber auch aufgrund der sich organisch ergebenden Verknüpfung, den die feministische Bewegung zwischen Verschuldung und der Unmöglichkeit zur Autonomie erkannt hat.
Damit sprechen Sie die Verknüpfung eines bislang viel zu wenig beachteten Zusammenhangs an: Wie die Finanzwirtschaft durch Verschuldung eine spezifische Art von Gewalt produziert, wirkt sich auf Frauen anders aus. Sie sprechen von finanzieller Gewalt. Wie definieren Sie das?
Mit finanzieller Gewalt meinen wir genau das: Wie die Verschuldungsdynamik und die Finanzwirtschaft, die sich gibt, als würde sie getrennt von Körpern, unabhängig von Arbeit existieren, eine ganz konkrete Auswirkung auf Körper hat. Die ist gewaltsam, da die Finanzwirtschaft Enteignungen und Privatisierungen produziert und die Möglichkeit attackiert, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Finanzielle Gewalt ist also die Art und Weise, wie sich die Staatsverschuldung in besonderer Weise auf das Leben von Frauen, Lesben, trans und nicht-binären Personen auswirkt. Sie steht auch für die Dynamik der Gewalt, die, um über die Runden zu kommen, im Alltagsleben Verschuldung hervorbringt und in durch die sich extrem prekäre Lebenssituationen verfestigen.
Durch die Rückkehr des IWF nach Argentinien im Jahr 2018 und die damit verbundenen Strukturanpassungsmaßnahmen sind sowohl Löhne als auch Ersatzleistungen stark zurückgegangen, was besonders Frauen betroffen hat. Wir haben eine Feminisierung der Verschuldung festgestellt, besonders bei den Frauen, die für das Haushaltseinkommen zuständig sind. Sie nehmen Schulden auf, um die Kosten für die Reproduktion des Lebens, um Grundbedürfnisse zu decken.
Im hegemonialen Narrativ wird Gewalt aus den Zusammenhängen gerissen – als wäre sie eine isolierte Problematik, die durch Kulturwandel abgeschafft werden könnte. Sie ist jedoch ein Pakt zwischen Kapitalismus, Patriarchat und Kolonialität – die Basis für eine Weltordnung. In dieser gelten die »Gesetze des Marktes« geradezu als unantastbar. Sie haben in einem Artikel mit Verónica Gago geschrieben: »Wir wollen den Finanzen einen Körper und einen konkreten Raum geben.« Wie sieht das aus?
Wichtig für die Debatte um finanzielle Gewalt war der Internationale Feministische Streik, durch den die organischen Verknüpfungen zwischen patriarchaler und ökonomischer Gewalt deutlich gemacht werden konnten. Wir reden von finanzieller Gewalt, um uns eine Sprache anzueignen, die Experten vorbehalten sein will, eine Sprache der Finanzströme. Wir wollen verstehen, wie dieses Mandat, sich zu verschulden, mit unseren Leben verschränkt und verwoben ist, wie es über eine ökonomische Gehorsamkeit Fuß fasst.
Wir müssen Schulden aus einer intersektionalen Querschnittsperspektive betrachten. Damit will ich sagen: Wie sieht die ganz eigene Realität von kleinbäuerlichen Frauen aus? Wie die der Frauen, die außerhalb des formellen Arbeitsmarkts arbeiten? Wie wird über Verschuldung die Enteignung indigener Territorien organisiert? Warum müssen Frauen aus Kooperativen sich verschulden, um Medikamente und Lebensmittel zu kaufen, anstatt dieses Geld in ihre produktiven Projekte zu investieren? Deswegen reden wir von konkreten Räumen und Körpern und von der politischen Aufgabe, von diesen Räumen und Körpern in verschiedenen Situationen zu erzählen.
Der Kapitalismus unterscheidet erst einmal nicht, wenn es darum geht, Körper auszubeuten, sich lebendige Arbeit einzuverleiben. ABER: Er setzt darauf, dass Frauen in besonders hohem Maße jene Arbeit leisten, die nicht bezahlt wird, jedoch dringend notwendig ist, das ganze System überhaupt am Laufen zu halten. Beginnt hier die Schuldendebatte?
Wir müssen Verschuldung aus der Perspektive der Arbeit betrachten: Viele Menschen im Globalen Süden sind verschuldet, egal ob sie einen Lohn bekommen oder nicht. Das Finanzwesen hat eine Reihe von Produkten entwickelt, die sich an die verarmte Bevölkerung richten: In den 80er Jahren waren das die Mikrokredite, jetzt sind es digitale Finanzierungsformen oder Finanztechnologien. Hier spielen Frauen auch eine besondere Rolle, die thematisiert werden muss: Die, die Arbeit machen, die nicht entlohnt wird, sind diejenigen die am höchsten verschuldet sind. Deswegen ist es sehr wichtig, die Verbindung zwischen Verschuldung und unbezahlter Arbeit zu sehen, zwischen Schulden und sozialer Reproduktion. Verónica Gago und ich haben zusammen mit Silvia Federici ein Buch geschrieben, in dem wir von der Kolonialisierung der sozialen Reproduktion sprechen. Damit meinen wir das Fortschreiten der Finanzwelt in immer breitere Bereiche der sozialen Reproduktion. Ein Prozess, in dem das Finanzkapital beginnt, in Gesundheit, in Bildung, in Lebensmitteln und Medikamenten ein Geschäft zu sehen und so immer mehr Bereiche unseres Lebens, die mit sozialer Reproduktion verbunden sind, über Verschuldung kontrolliert werden. Wir nennen das Kolonialisierung gerade wegen des kolonialen, invasiven Charakters, den die Verschuldung für das Leben hat.
Silvia Federici schreibt über die Ausbeutung und Abwertung des häuslichen Raumes: Ein Ort, an dem »vor allem die Arbeit von Frauen und feminisierten Körpern eingesetzt und der gleichzeitig als privater Raum eingegrenzt und verachtet wird«. Diese Verfestigung einer Ausbeutungsstruktur wird nicht freiwillig aufgehoben werden. Welche Ansätze für Widerstand gibt es?
Wir sprechen von finanziellem Ungehorsam als eine Form des Widerstands. Der Streik war eins der effektivsten Instrumente, um die Realität der Verschuldung und den Angriff des Finanzwesens auf unsere Leben deutlich zu machen. Wir streiken nicht nur als Arbeiterinnen, sondern auch als Schuldnerinnen und als Gläubigerinnen. Wir sagen: »Die Schulden habt ihr bei uns!«, das bedeutet, noch bevor der Staat den externen Gläubigern schuldet, hat er – durch die Nicht-Anerkennung der Hausarbeit und all die Entbehrungen, die der Neoliberalismus über dieses Land gebracht hat – eine historische Schuld bei den verschiedenen feministischen, queeren und indigenen Gruppen dieses Landes. Wir sind verschuldet beim Staat, haben Kredite bei den Banken und wir sollen auch noch unrechtmäßige Auslandsschulden bezahlen! Aber in Wirklichkeit sind wir Gläubigerinnen eines Reichtums, den wir produzieren, aber dessen wir kontinuierlich beraubt und enteignet werden. Bevor Auslandsschulden gezahlt werden, sollte uns erst einmal das gezahlt werden, was uns längst geschuldet wird. Finanzieller Ungehorsam meint Widerstand auf verschiedenen Ebenen: Schulden sind nicht nur ein Problem von Finanzströmen, sondern implizieren auch eine bestimmte Subjektivität. Dazu gehört die Verinnerlichung von Scham, die private Verantwortung und die Privatisierung von gesellschaftlichen Problemen in den Haushalten.
Warum begreifen wir Schulden nicht als reale Form der Beherrschung?
Schulden werden nicht als reale Form der Beherrschung gesehen, weil eine Sprache der finanziellen Beherrschung geschaffen wurde. Schulden wurden entpolitisiert, sie werden nicht als politisches Thema wahrgenommen. Es wird so getan, als würde sich die Finanzwirtschaft selbst reproduzieren, als hätte sie keine Beziehung zur arbeitenden Bevölkerung. Jahrzehntelang wurde versucht, die Macht der Finanzen zu entpolitisieren. Das geht soweit, dass Regierungen uns ständig sagen, wir dürften den Markt nicht verärgern, ihm versprechen, dass es keine Investitionen in Soziales gibt, dass man nichts für Gesundheit oder Bildung ausgibt, weil sonst das Finanzkapital darauf reagieren würde. Argentinien und Lateinamerika werden durch den Finanzmarkt erpresst. Es wurde eine dominante Sprache entwickelt, in der uns ständig Handlungsmacht genommen wird und in der die Finanzwelt vollkommen getrennt von unserer Fähigkeit zum Einspruch, zur Mobilisierung und dazu, Politik zu machen, konstruiert wird. In der feministischen Bewegung haben wir uns vorgenommen, den entgegengesetzten Weg zu gehen: Den Weg der Re-Politisierung der Schulden.
Cavallero, Lucí; Gago, Verónica: »A Feminist Reading of Debt«, Pluto Press, London, 2021.
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