Wirtschaft
anders denken.

Risse im Beton

30.07.2021
Peter Altmaier hebt auf einem CDU-Parteitag die HandFoto: Olaf Kosinsky, Lizenz: CC BY-SA 3.0-deWer steht in der deutschen Parteienlandschaft für Wirtschaftskompetenz?

Was ist Wirtschaftskompetenz und wenn ja, wie viele? Über Ökonom:innen im Bundestag und einen Hoffnungsfunken. Aus OXI 7/21.

Der SPD sei »das Ökonomische« ein wenig »verloren gegangen«, so hat es die Wirtschaftswissenschaftlerin und Direktorin der Berliner Denkfabrik Dezernat Zukunft, Philippa Sigl-Glöckner, unlängst einer Zeitung erzählt. Die Sozialdemokratie wisse mit wirtschaftspolitisch interessiertem Nachwuchs nicht immer richtig umzugehen.

Mit dieser Kritik steht die 31-Jährige keineswegs allein. Auch aus anderen Parteien waren in der jüngeren Vergangenheit hier und da Klagen zu vernehmen, ökonomische Kompetenz würde nicht angemessen gefördert. Dahinter verbergen sich zwei Fragen – die eine zielt auf die Rolle ab, die wirtschaftswissenschaftliche Expert:innen in Parteien und Fraktionen spielen; die andere darauf, was Wirtschaftskompetenz eigentlich ist.

In Umfragen spielt »Wirtschaftskompetenz« regelmäßig eine Rolle. »Es geht um das empfundene Vertrauen oder wenigstens die Hoffnung der Befragten auf eine wirksame Handlungskompetenz einer Partei oder Person auf ökonomischem Feld«, so hat Frank Wilhelmy vom Wirtschaftsforum der SPD versucht, dem Begriff beizukommen. Das verweist einerseits auf die Bedeutung, die eine solche Zuschreibung im politischen Wettbewerb hat. Es wird aber zugleich deutlich, dass es sich um eine ziemlich »flexible Projektionsfläche« handelt.

In den vergangenen Jahren überwog eine Auffassung, die Kompetenzen in den Vordergrund rückte, die »der Wirtschaft« nützlich sind. Je eher deren Interessen bedient würden, desto besser für das Wachstum, von dem wieder der Wohlstand aller profitiere und so weiter und so weiter. Seit der großen Finanzkrise, vor dem Hintergrund entwürdigender sozialer Realitäten wie Ungleichheit und Armut sowie angesichts der Herausforderungen der Klimakrise hat dieser interessengeleitete Beton viele Risse bekommen.

Das heißt nicht, dass der ideologische Brocken nicht mehr existieren würde. Aber immerhin: Was »Wirtschaftskompetenz« ist, wird gesellschaftlich neu verhandelt. Die Rolle des Staates, die tatsächlichen Folgen von Austerität, die Chancen von öffentlichen Investitionen, die Bedeutung von lenkenden Regeln – da spricht es aus manchen Parteien heuer anders heraus als noch zu jenen Zeiten, die meist als »neoliberal« kritisiert werden.

Die Wahrnehmung von »Wirtschaftskompetenz« unter Wähler:innen freilich ist ein träges Ding. Ausgerechnet der Union wird auch 2021 noch die höchste »Wirtschaftskompetenz« zugeschrieben, andere Parteien rangieren unter ferner liefen. Das mag etwas mit der bis zur Coronakrise guten Konjunktur zu tun haben, die in einer Art Kurzschluss der regierungsführenden Partei zugeschrieben wird.

Doch »bei näherem Hinsehen entpuppen sich CDU und CSU als wirtschaftspolitische Scheinriesen«, wie es der Journalist Christian Reiermann einmal ausgedrückt hat: Ihre Wirtschaftsexperten seien vor allem »Expertendarsteller«. Ob nun in der Variante des amtierenden Wirtschaftsministers Peter Altmaier, der auf der Ebene von Floskeln ein bisschen mehr Staat für möglich hält, oder in der Variante des als »Mann der Wirtschaft« nicht ganz falsch bezeichneten Friedrich Merz – es ist nicht die ökonomische Expertise, die hier zieht, sondern die Rolle, aus der heraus mal mehr, mal weniger dogmatische Worthülsen vorgetragen werden.

Nun sind Merz und Altmaier von der Ausbildung her Juristen, und damit zur zweiten der eingangs formulierten Fragen: Sind in der Politik zu wenig ausgebildete Ökonom:innen aktiv? Ein wirtschaftswissenschaftliches Studium schützt zwar nicht davor, politischen Unsinn zu fabrizieren. Und wo genau dieser anfängt, wird ja auch in der Ökonomik sehr unterschiedlich betrachtet. Ganz fern liegt der Schluss aber nicht, dass es zwischen volkswirtschaftlicher Bildung und »Wirtschaftskompetenz« wenigstens einen kleinen Zusammenhang gibt.

Unter den gegenwärtigen Bundestagsabgeordneten finden sich 44 diplomierte Volkswirtschaftler:innen. Das sind nur 6 Prozent aller Parlamentarier – und siehe da: Linke und Grüne führen die Liste zumindest anteilsmäßig mit jeweils 10 Prozent an, während in den regierungstragenden Fraktionen von Union und SPD der Anteil nur bei 5 bzw. 3 Prozent liegt.

Das ist wenig, und der Wirtschaftshistoriker Lino Wehrheim würde es deshalb auch »begrüßen, wenn im nächsten Bundestag wieder mehr Ökonominnen und Ökonomen vertreten wären«. Aber auch hier geht es schon wieder mit den Definitionsfragen los: Sind nicht auch Betriebswirtschaftler:innen Ökonom:innen, ja sollten nicht auch Abgeordnete dazugerechnet werden – Stichwort »Wirtschaftskompetenz« –, die in ihrer Berufsausbildung etwa als Bankkaufleute mit dem Metier zumindest in Berührung kamen?

Eine im April 2021 vorgestellte Analyse der Bildungswege der Bundestagsabgeordneten jedenfalls spricht von einer »Dominanz« der Ökonom:innen, 102 Parlamentarier:innen würden auf »wirtschaftswissenschaftliche« Uni-Abschlüsse verweisen können, nur die Jurist:innen kommen mit 147 auf einen höheren Anteil. Solches Zahlenmaterial lädt zu diversen Überlegungen ein, etwa darüber, ob es eine Art rechtswissenschaftliches Politik-Gen gibt.

Noch interessanter wäre zu wissen, was es für Richtung und Inhalte von Politik heißt, dass unter über 700 Abgeordneten nur vier gelernte Gesundheits- und Krankenpfleger*innen, fünf Erzieher*innen sowie zwei Altenpfleger*innen sind. Könnte nicht gerade hier eine andere Form von »Wirtschaftskompetenz« liegen? Eine, die weniger von »der Wirtschaft« her, sondern mehr von gesellschaftlichen Interessen her denkt? Und müssten also nicht mehr Abgeordnete aus »systemrelevanten Berufen« kommen?

Andererseits wird man aus der Tatsache, dass aktuell 43 Abgeordnete eine Lehramtsbefugnis erworben haben, nicht einfach darauf schließen können, dass Bildungspolitik hierzulande den richtigen Stellenwert hat, geschweige denn den richtigen Kurs verfolgt.

Was ein richtiger Kurs wäre, ist keine Frage von Bildungsabschlüssen, sondern eine der gesellschaftlichen Aushandlung. Das gilt auch für die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wer sich eine progressive Kursänderung wünscht, wird also nicht bloß auf eine höhere Zahl von Ökonom:innen hoffen, sondern müsste auf »die richtigen« setzen. Womit wir wieder bei der Projektionsfläche »Wirtschaftskompetenz« wären, die zwar flexibel sein mag, aber doch auch ein ziemlich harter Brocken ist.

Gerade in Wahlkampfzeiten wird da fröhlich neuer Beton angemischt. Man merkt es vor allem an der Lautstärke, mit der die Hunde der privaten Reichtumsmehrung schon bellen, bevor sie überhaupt durch politische Reformen getroffen wurden. Die Warnungen gegen fast alles, was links der CDU vorgeschlagen wird, sind das Betriebsgeräusch der Verteidigung einer ganz bestimmten »Wirtschaftskompetenz«.

Dass sich diese Erzählung oft vor der Wirklichkeit und dem gesellschaftlichen Interesse blamiert, ist ein Hoffnungsfunke: Vielleicht zählt ökonomische Vernunft ja irgendwann mehr als »Wirtschaftskompetenz«. Okay, okay – da lauert schon die nächste Frage: Was ist wirtschaftspolitisch vernünftig? Darüber wäre weiter zu streiten. Wobei das realpolitische Momentum von Veränderungen, die man sozial, gerecht, ökologisch nennen könnte, bitte auch mit einer Kritik der politischen Ökonomie auf der Höhe der Zeit konfrontiert werden sollte. Von wegen Marx und so. Progressive Wirtschaftspolitik wird dadurch nämlich klüger. Oder soll man sagen: kompetenter?

Geschrieben von:

Kim Schröther

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