Wirtschaft
anders denken.

Wirtschaftsziel Gemeinwohl – kann das gehen?

Warum eine am Gemeinwohl ausgerichtete Wirtschaft nur international abgestimmt funktionieren kann und wieso steuerfinanzierte Sozialleistungen ein Fortschritt wären, erklärt Hermann Adam im Gespräch.

27.06.2016
Professor Hermann Adam lehrt Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Der Diplom-Volkswirt und Politikwissenschaftler arbeitete in den 1970iger Jahren beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut des Deutschen Gewerkschaftsbundes (WSI) und danach beim Deutschen Sparkassen- und Giroverband. Sein Einführungswerk »Bausteine der Wirtschaft« ist eines der erfolgreichsten Ökonomielehrbücher jenseits des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams.

Wie muss eine Wirtschaft organisiert sein, die sich nicht am Profit, sondern am Gemeinwohl orientiert?

Adam: Gemeinwohl ist ein sehr schwammiger Begriff. Nach der politikwissenschaftlichen Pluralismustheorie ergibt sich das Gemeinwohl in einer Demokratie aus dem politischen Diskussionsprozess, innerhalb und außerhalb der Parlamente. An dessen Ende steht dann eine Entscheidung oder ein Gesetz, das verabschiedet wird. Ein solcher Prozess kann allerdings zu den unterschiedlichsten Ergebnissen führen. Zwei Beispiele: Zu Beginn der 1980er Jahre gab es mit Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien demokratisch gewählte Regierungen, die rigoros eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik einleiteten, die zu einem Abbau des Sozialstaates, mehr Markt und weniger staatlichen Eingriffen führte. Beide Regierungen wurden auch noch wiedergewählt. Offenbar wollte damals die Mehrheit der Bevölkerung in diesen beiden Ländern eine solche Politik. Zumal beide Politiker ihrer Bevölkerung vor der jeweiligen Wahl nichts vorgelogen hatten, sondern ihre marktfreundlichen Vorstellungen im Gegenteil sogar in den Mittelpunkt rückten. Demokratische Wahlen können also zu einer Wirtschaftspolitik führen, die nicht den Wohlstand aller, sondern nur den einer kleinen Minderheit mehrt.

Zu diesen Zeiten gab es aber auch gegenteilige Beispiele.

Richtig, beispielsweise Frankreich. Die Franzosen hatten Anfang der 1980er Jahre mit François Mitterand erstmals eine sozialistische Regierung gewählt. Diese versuchte, ihre Vorstellungen von einer »sozial gerechten« Wirtschaft mit zahlreichen Instrumenten umzusetzen, die wir mit einer gemeinwohlorientierten Wirtschaftsordnung verbinden: höhere Mindestlöhne, Verbesserung von Sozialleistungen, Schaffung von 180.000 zusätzlichen Stellen im Öffentlichen Dienst, Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 39 Stunden, eine zeitlich begrenzte Sonderabgabe auf Höchsteinkommen und Sondersteuern auf Spekulationsgewinne. Flapsig formuliert: das komplette linke Programm.

 

Damit ist diese Regierung jedoch grandios gescheitert: Die Verbraucherpreise stiegen um mehr als 14 Prozent. Die Exporte brachen ein, weil die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Unternehmen schwand. Unter anderem deshalb wuchs wiederum das Außenhandelsdefizit. Und die Staatsverschuldung explodierte. Schon nach einem Jahr musste die Regierung ihren Kurs korrigieren. Nach einem weiteren Jahr vollzog sie sogar eine radikale Wende hin zu einer klassisch neoliberalen, angebotsorientierten Politik. Die Sozialausgaben wurden kräftig gekürzt, der Franc wurde mehrmals abgewertet.

Was können linke Regierungen daraus lernen?

Zumindest das, was seit damals unter Ökonomen aller Richtungen unbestritten ist: Eine keynesianische Wirtschafts- und Finanzpolitik und eine expansive Sozialpolitik muss unter den Bedingungen einer international eng verflochtenen Weltwirtschaft scheitern, wenn sie isoliert in einem Land versucht wird. Aus dieser Geschichte lernen heißt daher: Nicht den Fehler Mitterands wiederholen, sondern versuchen, zwischen den wirtschaftlich bedeutendsten Ländern zu einer Abstimmung über eine gleichgerichtete Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu kommen. Wegen der politisch-ideologisch unterschiedlichen Ausrichtung der Regierungen ist ein solcher internationaler Konsens allerdings nur sehr schwer zu erzielen.

Eine keynesianische Wirtschafts- und Sozialpolitik muss scheitern, wenn sie isoliert in einem Land versucht wird.

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Wo und wann ist das zuletzt gelungen?

In der Finanzmarktkrise 2008/09 gab es diesen Konsens wenigstens vorübergehend. Die USA, Großbritannien, Deutschland und weitere acht Euroländer zogen am gleichen Strang und verabschiedeten Konjunkturprogramme, die sich in Europa auf fast 200 Milliarden Euro und in den USA auf rund 790 Milliarden US-Dollar summierten. Diese Programme haben vor allem in den USA und Deutschland die negativen Folgen der Finanzmarktkrise erheblich abgeschwächt.

Warum ist dieser internationale Gleichklang so bedeutsam?

Solange eine international abgestimmte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik wie 2008/09 nicht zustande kommt, muss jedes Land für sich darauf bedacht sein, dass seine Unternehmen international wettbewerbsfähig bleiben. In einer Weltwirtschaft, in der die Länder durch den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr eng miteinander verflochten sind, heißt das: Die heimischen Unternehmen dürfen im Vergleich zu den anderen nicht stärker mit Löhnen, Steuern und Sozialabgaben belastet werden. International gilt das gleiche Prinzip wie innerhalb eines Landes: Erhöht ein einzelnes Unternehmen die Löhne und zahlt besonders hohe Sozialleistungen, gerät es gegenüber seinen Mitbewerbern, die das ihren Arbeitnehmern nicht bieten, am Markt in Nachteil und würde für sein soziales Verhalten sogar bestraft, weil es für seine Produkte höhere Preise verlangen muss und dadurch Absatzeinbußen erleidet. Nur wenn Gesetze und Tarifverträge alle Unternehmen zu gleichen Löhnen und Sozialleistungen verpflichten, bleiben alle Unternehmen auch gleich wettbewerbsfähig. Deshalb ist es so wichtig, dass es in Deutschland endlich einen gesetzlichen Mindestlohn gibt und dass möglichst viele Unternehmen in das System der Tarifverträge eingebunden sind. Und genauso ist es eben wichtig, dass sich bedeutende Industrieländer in ihrer Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik abstimmen, innerhalb der Eurozone sowieso, aber auch außerhalb. Denn so erweitert auch jede Regierung für sich ihren Handlungsspielraum gegenüber den Unternehmen und vor allem den Finanzmärkten.

Was wäre eine wichtige Maßnahme, die die deutsche Politik beschließen müsste, damit Wirtschafts- und Sozialpolitik stärker gemeinwohlorientiert ist, ohne sich mit einem Alleingang zu isolieren, also den Fehler von Francois Mitterrand zu begehen?

Es ist beispielsweise sehr gut, dass SPD, Grüne, Die Linke und die Gewerkschaften gleichermaßen eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik in der EU fordern. Es ist kein Zufall, dass CDU und CSU da nicht mitmachen. Denn das würde das Ende der neoliberalen Regeln in der EU bedeuten. Und es wäre für die Union das Eingeständnis, dass ein Währungsraum, der aus sehr unterschiedlichen Ökonomien besteht wie der Euroraum, ohne eine Wirtschafts- und Sozialunion eben nicht funktionieren kann. Das war ja das Konzept der damaligen Regierung Kohl, aber das ist gescheitert. Nun ist das ein sehr großer Schritt, das wird noch dauern. Überschaubarer wäre der folgende Schritt: Deutschland finanziert seinen Sozialstaat, wie die Wohlfahrtsstaaten in Skandinavien, sehr viel stärker über Steuern und weniger über Beiträge.

Wo läge da der Fortschritt in Richtung von mehr Gemeinwohl?

Zumindest käme erst einmal mehr Ehrlichkeit in die Politik. Denn die Parteien links von der Union halten immer noch hartnäckig daran fest, die Sozialversicherung solle paritätisch mit Beiträgen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber finanziert werden. Sie erliegen damit der Illusion – und verbreiten sie auch noch –, die Arbeitgeber würden sich tatsächlich »echt« an den Sozialkosten beteiligen. Die Arbeitgeberbeiträge sind aber seit jeher Bestandteil von deren Preiskalkulation – sie überwälzen diese Kosten also auf die Preise; die Beiträge werden somit von den Arbeitnehmern bezahlt. Eine stärkere Steuerfinanzierung wäre also zunächst einmal ein Gewinn an Transparenz.

Die paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanzierte Sozialversicherung ist eine Illusion.

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Und der weitere Vorteil?

Wenn Sozialversicherungen stärker über Steuern und weniger über Beiträge finanziert werden, steigen die Beitragssätze und damit die Lohnnebenkosten nicht oder geringer, und so bleibt die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erhalten. Dies gilt erst recht, wenn die indirekten Steuern, beispielsweise die Mehrwertsteuer, angehoben werden. Da haben wir in Deutschland noch erheblichen Spielraum nach oben: Die skandinavischen Länder haben beispielsweise einen Mehrwertsteuersatz von 25 Prozent, wir nur von 19 Prozent. Die Mehrwertsteuer wird nämlich nicht auf exportierte Waren erhoben, beeinträchtigt also nicht die preisliche Wettbewerbsfähigkeit unserer Ausfuhren auf den Auslandsmärkten.

Aber eine höhere Mehrwertsteuer benachteiligt doch gerade die unteren Einkommensbezieher, die einen überdurchschnittlich hohen Anteil ihres Einkommens für Essen, Miete, also für das Alltagsleben ausgeben müssen.

Der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent auf die gängigen Alltagsprodukte sollte natürlich nicht angehoben werden. Aber warum sollen mit einem höheren Steuersatz nicht Produkte des gehobenen Lebensstandards verteuert werden, wie beispielsweise Champagner, Designerkleidung oder ein Porsche.

Es heißt immer, mit dieser anderen Finanzierung der Sozialversicherung gewänne die staatliche Sozialpolitik an Gestaltungsspielraum. Worin würde der bestehen?

In der Rentenversicherung könnte beispielsweise das Äquivalenzprinzip abgeschwächt werden. Es besagt, dass sich die Höhe der Rente nach dem früher verdienten Einkommen richtet. Das ist ein großer Nachteil für Geringverdiener. Denn wer ein Leben lang nur wenig verdient, für den wird die gesetzliche Rente im Alter nicht ausreichen. Der muss dann Grundsicherung beantragen. Mit allgemeinen Steuermitteln ließen sich viel eher Mindestrenten finanzieren, die über der Grundsicherung liegen. Schon heute fließen zwar rund 80 Milliarden Euro jährlich an Steuern in die Rentenkasse. Das wird aber zukünftig nicht ausreichen. So gewänne die nationale Sozialpolitik erheblich mehr Spielraum.

Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang: Dieser Schritt wäre unter den gegebenen Macht- und Mehrheitsverhältnissen in Deutschland grundsätzlich durchsetzbar. Deutschland würde sich damit in der EU nicht isolieren, denn andere Länder haben diesen Weg längst eingeschlagen. Diese Politik wäre also machbar. Und das ist wichtig. Denn es nützt nichts, von einer Gemeinwohlorientierung oder einer allgemein besseren Politik zu reden und zu träumen und dann nur Niederlagen und Enttäuschungen zu produzieren.

Wenn wir trotzdem noch weiterschauen und optimistisch sind: Was wären die zwei, drei entscheidenden Merkmale eines Wirtschaftssystems, das sich am Gemeinwohl orientiert und nicht am Profit? Gäbe es in ihm noch den Marktmechanismus, Wettbewerb und Konkurrenz, das Streben nach Gewinn? Gäbe es mehr öffentliche und weniger private Unternehmen?

Sind wir mal so optimistisch und nehmen an, es gäbe im Bundestag eine satte linke politische Mehrheit und – was ganz wichtig wäre – auch im Bundesrat. Diese Mehrheit könnte das Verhältnis zwischen Markt und Lenkung neu justieren. Selbstverständlich gäbe es weiterhin Markt und Wettbewerb. Warum soll die S-Klasse von Mercedes nicht weiterhin gegen den 7er BMW und den Audi A 8 konkurrieren? Auch das Streben nach Gewinn ist grundsätzlich unverzichtbar, weil nur so gewährleistet werden kann, dass die volkswirtschaftlichen Ressourcen sparsam eingesetzt werden. Aber in manchen Bereichen dürfen die betriebswirtschaftlichen Kosten nicht der alleinige Maßstab des Handelns sein. Das gilt insbesondere für die öffentlichen sozialen Dienstleistungen. So muss es beispielsweise mehr und besser bezahlte Altenpfleger in den Senioreneinrichtungen und ebenso mehr und besser bezahlte Erzieher in den Kitas geben. Das lässt sich über den Markt nicht regeln, weil für qualitativ hochwertige soziale Dienstleistungen bei betriebswirtschaftlicher Kalkulation Preise in einer Höhe verlangt werden müssten, die außer den oberen Zehntausend niemand bezahlen könnte. Diese sozialen Leistungen können nur in einem hoch subventionierten Non-Profit-Sektor erbracht werden. Dieser muss nicht zwingend staatlich organisiert sein. Karitative, kirchliche, gemeinnützige oder private genossenschaftliche Einrichtungen könnten das ebenfalls leisten.

Das Streben nach Gewinn ist unverzichtbar, weil nur so die wirtschaftlichen Ressourcen sparsam eingesetzt werden.

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Das alles würde eine erhebliche Umstrukturierung unserer Wirtschaft bedeuten. Einige Arbeitsplätze in der privaten Konsumgüterindustrie und bei den privaten Dienstleistungen würden verloren gehen, dafür würden neue, vollwertige, gut bezahlte – statt wie jetzt prekäre – Arbeitsplätze im sozialen Dienstleistungssektor entstehen. Zugespitzt formuliert: Weniger Investmentbanker und Versicherungsmakler, dafür mehr Krankenschwestern und Sozialarbeiter. Das ist nur ein kleiner Teil dessen, was zu einer anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gehören würde. Auch die klassischen öffentlichen Dienstleistungen müssten aufgestockt werden, insbesondere in den Bereichen Polizei, Steuerfahndung, Gewerbeaufsicht sowie im Bildungs- und Weiterbildungswesen. Und nicht zu vergessen: höhere öffentliche Investitionen, beispielsweise in Schulen und öffentliche Verkehrssysteme. Das wäre wenigstens ein Einstieg in eine Volkswirtschaft, die sich grundsätzlich stärker am Gemeinwohl orientiert als bisher.

Das Interview führte:

Wolfgang Storz

Kommunikationsberater

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