Wirtschaft
anders denken.

Sag mir, wo die Arbeiter sind, wo sind sie geblieben?

08.09.2018
gemeinfreiGiuseppe Pellizza da Volpedo: Der vierte Stand (1901)

Um 1900 herum waren fast zwei Drittel der Erwerbstätigen »Arbeiter«. Heute zählt die amtliche Statistik lediglich noch 17,5 Prozent der Beschäftigten dazu. Horst Kahrs hat Daten und Gedanken über die »Flugbahn« des »Arbeiters« in der deutschen Sozial- und Klassenstruktur zusammengetragen.

Als politische Figur erleben sie so etwas wie eine kleine Renaissance, als soziale Realität scheinen sie zu verschwinden: »die Arbeiter«. Wenn linke Parteien ihre Wahlauswertungen diskutieren, wird gern mahnend darauf verwiesen, dass der Stimmenanteil unter »den Arbeitern« gering sei. Mancher Zweig der Debatte über Repräsentationslücken ist von der Auffassung dominiert, die linken Parteien hätten »den Arbeiter« vernachlässigt. Und auch in den Diskussionen über eine neue Klassenpolitik scheinen sie mancherorts als Projektionsfläche auf: »die Arbeiter«.

Die Frage ist, wer ist das heute überhaupt und wie lässt sich auf welchem empirischen Fundament darüber diskutieren? In Zeiten, in denen zugespitzte Aussagen oft meinen, ohne ein solches Fundament auszukommen, verdient eine statistische Arbeit von Horst Kahrs Aufmerksamkeit: Der Sozialwissenschaftler hat jede Menge Daten zur sozialen Position »Arbeiter und Arbeiterin« zusammengetragen – unter der Überschrift »Aus der Mehrheit in die Minderheit« für das Institut für Gesellschaftsanalyse der linksparteinahen Luxemburg-Stiftung. Kahrs zeigt hier, wie »die Arbeiter« nicht nur in den sozialrechtlich geprägten Statistiken immer weniger werden, sondern diskutiert auch, wie sich das auf Selbstwahrnehmungen und die Rolle einer einst dominanten Sozialfigur auswirkt.

»Statt von Arbeitern und Angestellten ist von Arbeitnehmern, abhängig Beschäftigten oder Lohnabhängigen die Rede, dabei oftmals auch den Status »Beamte« einschließend und die zweifellos fortbestehenden Unterschiede verwischend. Oder der Begriff »Arbeiter« wird umgekehrt verwendet, auch andere soziale Stellungen einschließend. Augenscheinlich hat der Begriff in der öffentlichen Rede seine Schärfe verloren«, so Kahrs. Aktuell gelten noch 17,5 Prozent der erwerbstätigen inländischen Bevölkerung als »Arbeiter«, noch Anfang der 1970er Jahren waren es fast die Hälfte.

Blaumann oder weißer Kragen, Lohn oder Gehalt

»Arbeiter oder Arbeiterin war, wer überwiegend körperlich arbeitete und oft wöchentlich eine Lohntüte erhielt. Die Unterschiede zum Status des und der Angestellten waren offenkundig: Blaumann oder weißer Kragen, Wind und Wetter oder Bürostube, Lohn oder Gehalt. Vom Arbeiter zum Angestellten zu werden, bedeutete in den Köpfen vieler auch: sozial aufzusteigen«, schreibt Kahrs einleitend. Noch Anfang der 1990er Jahre »konnte die (subjektive) Wahrnehmung, dass ›Arbeiter‹ zu sein eine bedeutende, wenn nicht noch dominierende soziale Stellung sei, ein empirisches Fundament für sich beanspruchen bzw. war die Erinnerung an diese Zeiten noch frisch. Mit den sozialen Wandlungsprozessen nach 2000 werden ›Arbeiter‹, Lohnabhängige im engeren statistischen Sinn, zu einer fühl- und erfahrbar schrumpfenden Minderheit«. Regional sind starke Unterschiede beim »rasanten Rückgang der Arbeiter-Zahl in der Statistik seit 2000« zu beobachten.

Das »Verschwinden« der Arbeiter ist zum Teil eine Folge gelungener Aufstiege, sozusagen eine Dividende sozialdemokratischer Politik, die dieser zugleich eine einst große und feste Burg der Zustimmung unter der Hand schrumpfen ließ. Wenn heute mahnend darauf verwiesen wird, dass viele Arbeiter heute nicht mehr wie traditionell SPD wählten, dass sie zahlenmäßig eine große Gruppe unter denen ausmachen, die gar nicht mehr ihr Kreuz machen, oder dass man sie vergleichsweise häufig unter denen findet, die für rechtsradikale Parteien votieren, werde aber oft übersehen oder unterschlagen, so Kahrs, »welche Bedeutung dieses Stimmverhalten für das Gesamtergebnis hat, welchen Anteil Arbeiter unter allen Wählern einnehmen«. Wenn der – mit der sozialstatistischen Gesamtzahl – stark gesunken ist, hängt auch ein Vergleich mit einem höheren Arbeiter-Anteil unter zum Beispiel SPD-Wählern in den 1970er Jahren ziemlich schief in der Luft.

Selbstwahrnehmungen und Rollenbilder

In dem Papier von Kahrs geht es aber keineswegs nur um wahlpolitische Daten und sozialrechtlich begründete Statistik (»mit der Zusammenführung der Rentenversicherung der Arbeiter mit der Rentenversicherung der Angestellten im Jahr 2010 ist die letzte sozialrechtlich wichtige Unterscheidung zwischen den beiden sozialen Stellungen entfallen«). Sondern auch um Selbstwahrnehmungen, Rollenbilder, die Wandlungen sozialmoralischer Milieus.

Denn nicht jeder, der per definitionem nicht mehr als Arbeiter gilt, nimmt das für sich und seinen Alltag auch so wahr – und andere richten sich auch nicht zwangsläufig an sozialrechtlichen Unterscheidungskategorien. »Sehr wohl« werde »in der Selbst- wie Fremdwahrnehmung unterschieden, etwa ob man zur ›Arbeiterschicht‹ oder zur ›Mittelschicht‹ (der Angestellten) zählt, wobei diese Selbsteinstufung nicht zwingend mit der eigenen sozialen Lage in Einklang stehen muss«.

Ein Beispiel: Werde im medial-politischen Betrieb die »Arbeiterschicht« angerufen, »fühlen sich Angehörige unterschiedlicher sozialer Lagen angesprochen. Mehrheitlich als Arbeiter sehen sich Facharbeiter und un- und angelernte Arbeiter, aber auch gut 40 Prozent der einfachen Angestellten und Beamten«. In Ostdeutschland ist die Selbstzuordnung zu »den Arbeitern« deutlich stärker, »was gemeinhin als sozialpsychologische Nachwirkung der ›arbeiterlichen Gesellschaft‹ (Wolfgang Engler) der DDR erklärt wird«.

Welchen Sinn macht es noch, vom ›Arbeiter‹ zu reden?

Die Analyse ist nicht bloß darauf angelegt, Veränderungen in den Daten und Ergebnissen von Umfragen besser zu sortieren und zu verstehen. Sondern es geht auch um mögliche gesellschaftspolitische Schlussfolgerungen. Kahrs weiter: »Der soziale Wandel, die Schrumpfung der sozialen Position ›Arbeiter‹ hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren, enorm beschleunigt und damit auch die Statusverunsicherungen, die Umstellungserfordernisse, der soziale Druck auf den Habitus.« Hier macht sich auch eine Spaltung zwischen denen bemerkbar, die aufgestiegen sind und jenen, die dies – in eigener Wahrnehmung – nicht geschafft haben.

»Der Abstieg von der dominanten Sozialfigur zu einer minoritären gründet im ökonomischen Strukturwandel, ist selbst aber wiederum die Quelle einer Reihe von subjektiven Verarbeitungs- und Anpassungsweisen«, so Kahrs weiter. »Strukturelle Macht – Marktmacht wie Produktionsmacht – schwindet dramatisch, mit ihnen auch die Organisationsmacht, die eigenen Gesellschaftsbilder verlieren ihre normierende Kraft, damit auch die Lebensweise und Lebenseinstellungen, schließlich muss man sich auch mit dem Gedanken beschäftigen, den sozialen Aufstieg nicht geschafft zu haben. Zusammen mit den (neuen) Schließungsversuchen der sozialen Aufsteiger nach unten bildet sich (wieder) eine klassische ›proletarische Lebenslage‹ heraus, die nicht nur von der Existenzsicherung geprägt ist, sondern auch von der Aussichtslosigkeit, diese Lage verlassen zu können. Die umgangssprachlichen ›beengten Verhältnisse‹ kehren zurück.«

Dennoch bleibt in der Gesamtbetrachtung eine Frage: »Wenn immer weniger die typischen Merkmale des ›Arbeiters‹ aufweisen und sich als solchen im Gegensatz zu anderen Statusgruppen betrachten«, so Kahrs, »welchen Sinn macht es dann noch, in Politik, Wahlforschung und Klassenanalyse vom ›Arbeiter‹ zu reden – wenn damit nicht eine rein analytische Kategorie gemeint ist?«

Bild: Giuseppe Pellizza da Volpedo: Der vierte Stand (1901), gemeinfrei

Geschrieben von:

Svenja Glaser

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