Wirtschaft
anders denken.

»Wollen wir noch den Kapitalismus überwinden?« Die SPD auf der Suche nach ökonomischer Kompetenz

11.07.2018

»Totgesagte leben länger« – so lautet der Titel der neuesten Ausgabe der Zeitschrift »perspektiven des demokratischen sozialismus«. Anmerkungen zur Debatte über die Krise der SPD, deren ökonomische »Ahnungslosigkeit« und Ansätze einer linken Wirtschaftspolitik im Kapitalismus und darüber hinaus.

Man wird nicht gerade behaupten wollen, dass die »Erneuerung der SPD« ein beherrschendes Thema in der Öffentlichkeit wäre. Während die bundespolitische Agenda von rechts bestimmt, auf die Themen Migration und Asyl verengt und zum eskalierenden Dauerton gemacht wird, stolpern die mitregierenden Sozialdemokraten hinterher: hier ein eigener »Masterplan«  Migration, dort eine Haltungsnote für Seehofer. Sie mögen Teil einer parteiinternen Wirklichkeit sein, aber gesellschaftlich hörbar sind Debatten über programmatische Neufindung, organisationspolitische Reform und gesellschaftliche Strategie jenseits kurzfristiger Legislaturperioden-Raster nicht.

Ob man das zu einem wohlfeilen Vorwurf ausbuchstabieren sollte, sei einmal dahingestellt. Das Beklagen von fehlenden Debatten ersetzt die Lücke ja auch nicht. Zumal es angesichts von immer neuen Umfragetiefstständen ja auch recht einfach erscheint, über die SPD herzuziehen. Ist man selber bei der Beantwortung der drängenden Fragen weiter? Zudem: Es ist auch nicht so, dass überhaupt keine Diskussion stattfindet. Zum Beispiel in der Zeitschrift »perspektiven des demokratischen sozialismus«, die im Umfeld der Hochschulinitiative HDS erscheint und deren neueste Ausgabe sich der »SPD in der Existenzkrise« zuwendet.

Hoffnung oder realistische Prognose?

Ob der Titel »Totgesagte leben länger« nur Hoffnung oder auch realistische Prognose ist, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob die Sozialdemokratie in der Lage ist, sich wirtschaftspolitisch neu auszurichten, also einen Weg zu formulieren, die Widersprüche zwischen schrumpfenden Spielräumen auf nationaler demokratischer Ebene und globaler kapitalistischer Dynamik zugunsten neuer Schritte sozialer Integration, Marktregulierung und darüber hinausgehendem Kurswechsel zu bearbeiten.

In dem Heft unterzieht Johannes Heinen das wirtschaftspolitische Denken der Sozialdemokratie der vergangenen Jahrzehnte einer scharfen Kritik. Die SPD sei spätestens seit Oskar Lafontaines Rückzug 1999 »in ökonomischen Fragen in ein tiefes Talk der Ahnungslosigkeit gestürzt. Sie möchte ja gerne soziale Gerechtigkeit schaffen, weil jedoch längst nicht mehr, mit welchen ökonomischen Konzepten dies umzusetzen ist«. Sozialdemokraten hätten »einfache wirtschaftspolitische Zusammenhänge ignoriert«, sind teils auch aus schierer Unkenntnis offen für Lobbyismus, »primitive wirtschaftswissenschaftliche Denkschulen« und »fehlerhafte« neoklassische Annahmen geworden, wie Heinen am Beispiel der Agenda-Reformen zeigt. Die dabei als leitend hingenommenen ökonomischen Ansichten könnten aber »niemals dazu geeignet sein…, sinnvolle Handlungsempfehlungen für die Politik zu liefern«.

Also braucht es andere, aber welche? Die Ausgabe der »perspektiven« dokumentiert unter anderem das Papier von zwölf jüngeren SPD-Bundestagsabgeordneten, für die es »im Wesentlichen um eine klare Positionierung in gesellschaftlichen Zukunftsfragen« geht – in dem Papier wird deutlich gegen »die Schwarze Null«, das »neoliberale Dogma Privat vor Staat und Politiken zur Vertiefung sozialer Ungleichheit Stellung bezogen.

Vermittlungsproblem und Programmdefizit

Stephan Klecha verweist in seinen »12 Thesen zur Krise der Sozialdemokratie« darauf, dass »Arbeit, Soziale Sicherheit und Bildung … die Eckpfeiler« seien sollten, »auf denen sich ein programmatischer Fundus langfristig aufbauen muss«. Klecha verbindet dies mit der Kritik, dass Forderungen wie etwa jene »nach Familiennachzug Geflüchteter, Aufhebung des Kooperationsverbotes, Einführung einer Bürgerversicherung oder nach Festschreibung eines bestimmten Rentenniveaus« zwar »legitim, teils auch in der Sache unumgänglich« seien. Aber: Sie seien »in Diktion, politischer Beschreibung und Emotionalisierung letztlich Diskurse politisch-intellektueller Eliten. Sie taugen in ihrer Komplexität nicht, Wähler zu mobilisieren.«

Angesprochen ist hier ein Vermittlungsproblem, zu dem spiegelbildlich ein Programmdefizit gehört – Klecha schreibt, die SPD brauche »ein Modernisierungsprogramm der gesellschaftlichen und nicht zuletzt der wirtschaftlichen Verhältnisse«. Dieses müsste attraktiv, mobilisierend sein, Anforderungen, die programmatische Erzählungen wie »vorsorgender Sozialstaat«, »solidarische Bürgergesellschaft« oder »Teilhabe am Haben und Sagen« aus dem gültigen Hamburger Parteiprogramm nicht erfüllt hätten.

Klecha zielt noch auf einen wichtigen Punkt: Selbst wenn man solche eingängigen Erzählungen hätte, ist damit noch nicht gesagt, dass diese auch »ziehen« – weil ein altes Dilemma der Linken wirkt: Diese wollen immer am meisten und am deutlichsten verändern, aber viele Menschen fürchten Veränderung. Zumal, Klecha zeichnet das kurz anhand der tiefgreifenden Transformationsprozesse im Osten nach der Wende und im Westen im Zuge des industriellen und technologischen Wandels »die Sehnsucht nach einem Politikwechsel« nicht automatisch als Antriebsquelle angesehen werden sollte, weil »die Erschöpfungen« nach den Veränderungsprozessen der vergangenen Jahrzehnte »zu groß« sind.

Nicht nur ein Korrektiv für den Kapitalismus

Das betrifft eine in der linken immer schon umstrittene Frage, nämlich die nach der Reichweite gesellschaftlicher Veränderung. Ulrich Heyder bringt das in einer Frage auf den Kern: »Wollen wir das überhaupt noch, den Kapitalismus überwinden?« Er plädiert für mehr Genauigkeit bei den Begriffen, sieht das »Erfordernis einer notwendigen Ergänzung und Vertiefung der alten Reformprojekte« und schreibt weiter: »Heute geht es nicht nur um ein Korrektiv für den Kapitalismus, um seine sozialrechtliche Einhegung plus Übernahme seiner Folgekosten durch die Allgemeinheit. Heute geht es um die Reform der Wirtschaftsprozesse selbst, das heißt die Überwindung des Kapitalismus in uns allen, jedoch ohne den freien Markt, ein freies Unternehmertum, den Wettbewerb und die marktliche Preisbildung dabei zu verlieren.«

Da wird Widerspruch von weiter links nicht lange auf sich warten lassen. Anschlusspunkte an die Debatten über sozialistische Marktwirtschaft sind sicher vorhanden. Und die von Heyder skizzierten »drei Ebenen sozialer und politischer Gestaltung« – »die notwendigen Reparaturmaßnahmen im Kapitalismus«, »institutionelle gesellschaftliche Erneuerung«, womit etwa die Perspektive der Trennung von Arbeit und Einkommen gemeint ist, und ein »grundlegender gesamtgesellschaftlicher sozioökonomischer Umbau in langfristiger Perspektive« – könnte man einmal mit Eric Olin Wrights Sozialismus-Konzeptionen, die auf eine Kombination mehrerer Wege zur Erlangung »gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit« hinauslaufen. Bei Heyder ist das zum Teil jedenfalls mit angelegt, wenn er schreibt, »der Staat muss entlastet, die Gesellschaft selber problemlösungsfähig werden. Das Mittel dazu ist eine Aktivierung der Gesellschaft durch eine neue Form der genossenschaftlichen Zusammenarbeit im Markt«.

Im nationalen Rahmen nicht mehr möglich

Eine andere Note findet sich im Text von Hermann Adam, der ein anderes, als »ur-sozialdemokratisch« bezeichnetes Ziel vor Augen hat: »Es geht um die Wieder-Einhegung des Kapitalismus durch den Staat, nicht um die Überwindung des Kapitalismus«. Den Schwerpunkt legt sein Beitrag aber unter anderem auf eine andere Dimension gesellschaftlicher Veränderung – ihre Räumlichkeit. Der Ökonom Adam pocht darauf, die eingeschränkten Handlungsspielräume nationaler Politik mitzudenken, es habe hier »Restriktionen« gegeben, angesichts derer »sozialdemokratische Wirtschaftspolitik im nationalen Rahmen nicht mehr möglich« sei.

Als Konsequenz plädiert Adam für Ehrlichkeit, man müsse der Bevölkerung sagen: »Die SPD allein kann die Globalisierung nicht zurückdrehen – auch dann nicht, wenn sie bei der nächsten Bundestagswahl 50 Prozent plus eine Stimme bekäme«. Wenn insofern »begrenzte politische Handlungsspielräume einzuräumen« sind, heiße das freilich nicht, die Hände in den Schoß zu legen. »Eine erste Antwort«, so Adam, könne sein, Europa »zu einer Sozialunion« weiterzuentwickeln. Unter »den neuen ökonomischen Rahmenbedingungen« müssten Ziele wie der Schutz der Lohnarbeit vor dem strukturellen Übergriff derer, die sich »Arbeitnehmer« nennen, »auf die EU-Ebene und später auf die internationale Ebene gehoben werden«.

Man kann diesen Gedanken noch ausweiten, schließlich sind nicht nur Fragen des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit, sondern auch die Widersprüche der Naturaneignung und Ressourcenausbeute im Kapitalismus längst nicht mehr nationalstaatlich zu lösen. Hier knüpft Thomas Weber in seinem Beitrag zur globalen Nachhaltigkeit an: Es gehe um »die grundsätzliche Zukunftsfrage der Menschheit schlechthin«. Und weiter: »Nachhaltigkeit ist die einzig tatsächlich alternativlose Perspektive aller heutigen Politik.«

perspektiven des demokratischen sozialismus, 35. Jahrgang, 1/2018, Verlag Schüren, 226 Seiten, 9,90 Euro. Infos und Bezugsmöglichkeiten finden sich hier

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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