Wirtschaft
anders denken.

Zinshammer ohne Nagel

22.10.2022

Die Europäische Zentralbank ist mit der Inflation überfordert. Ihre historische Zinserhöhung wird Jobs kosten und Pleiten verursachen, nicht aber die Inflation senken. Aus OXI 10/22.

Sie ist wieder da. Jahrelang war sie weg, keiner hat sie vermisst, jetzt reden alle über sie. Die Rede ist von der Inflation. Einkaufen, tanken, duschen: Der Alltag ist teurer geworden. Vor allem, weil Energie knapp und teuer geworden ist. Laut Umfragen zählen Menschen steigende Preise längst zu ihren größten Sorgen. Während die Ampel in Berlin Entlastungspakete und Hilfsprogramme schnürt, schauen immer mehr Ökonom:innen und Politiker:innen mit fragendem Blick nach Frankfurt. Dort hat nämlich die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Sitz und soll mit ihrer Geldpolitik für stabile Preise sorgen. Ihr Inflationsziel: zwei Prozent pro Jahr. Im August lag die Teuerung im Euroraum aber bei 9,1 Prozent. Kein Wunder also, dass Politiker:innen und Ökonomen:innen die EZB zu Hilfe rufen. Allen voran Finanzminister Christian Lindner. So geschehen bei seiner Abschlusserklärung nach dem Ende des G7-Gipfels. Vor der Weltpresse sagte er: »Ich hab es mal für mich nach meiner Überzeugung auf den Punkt gebracht mit dem Satz: Die Notenbanken sind sehr, sehr, sehr, sehr unabhängig. Aber sie haben auch eine sehr, sehr, sehr große Verantwortung in dieser Zeit.« Frei übersetzt: Die Zentralbank solle doch endlich den Zinshammer aus dem Werkzeugkoffer holen.

Es gibt nur ein Problem. Die Inflation ist gar kein Nagel. Die EZB hat gar nicht so viele Werkzeuge im Koffer, um die Inflationsrate zu beeinflussen. Sie kann aus ihrem Büro-Tower in Frankfurt eigentlich nur den Zins festlegen und Anleihen handeln, mehr nicht. Eigentlich ist es eher ein Köfferchen als ein Koffer. Die letzten 15 Jahre deuten an, dass die EZB damit die Inflation nicht kontrollieren kann. Nach der Finanzkrise hat sie den Zins kontinuierlich gesenkt, um die Wirtschaft wiederzubeleben und die Inflation auf das Ziel von zwei Prozent zu drücken. Seit 2016 verfolgte sie sogar eine Nullzinspolitik. Das Ergebnis: ernüchternd. Sie hat das Inflationsziel permanent unterschritten, ist teilweise sogar nur knapp der Deflation entkommen.

Heute ist die Aufgabe anders. Jetzt muss sie nicht die Deflation verhindern, sondern die Inflation bremsen. Das Problem: Gegen die Knappheit beim Gas oder die Preisrallye am Strommarkt kann die EZB direkt nichts machen. Doch genau dort kommt die Inflation her. Dienstleistungen sind kaum teurer als vor einem Jahr, Energie hat dafür fast 40 Prozent zugelegt. Trotzdem hat die EZB Anfang September die höchste Zinserhöhung ihrer Geschichte beschlossen. Um 0,75 Prozentpunkte hob sie den Leitzins auf jetzt 1,25 Prozentpunkte an. Das ist der Zins, zu dem sich Banken jederzeit Guthaben bei der EZB leihen können. Das Guthaben brauchen sie, um Zahlungen mit anderen Banken abzuwickeln, regulatorische Vorgaben wie die Mindestreserven zu erfüllen oder Bargeld für Bankautomaten zu beschaffen. Der Leitzins der Zentralbank beeinflusst quasi alle anderen Zinsen in der Wirtschaft: für Bau-, Konsum- und Firmenkredite genauso wie für Spareinlagen und Staatsanleihen. Wenn die EZB den Zins anhebt, werden Kredite teurer.

Befürworter:innen der Zinserhöhung bestehen auf drei möglichen Wirkungskanälen: Höhere Zinsen bremsen die Wirtschaft, drücken die Löhne und werten den Euro auf. Aber hilft das auch gegen den Energiepreisschock? Der Reihe nach!

Erstens: Teurere Kredite würgen Investitionen von Firmen ab. Das bremst die Wirtschaft aus, macht Menschen arbeitslos und lässt Firmen pleitegehen. Das Kalkül: In einer stotternden Wirtschaft wird weniger Geld ausgegeben und dann sinken die Preise. Das Problem: Ausgaben für Energie sind unelastisch, wie Ökonom:innen sagen. Bevor also an Energie beim Tanken, Heizen oder Duschen gespart wird, kürzen die Verbraucher:innen woanders. Mit dem Zins gezielt die Nachfrage nach Energie zu senken, ist unmöglich. Die Kollateralschäden sind zudem hoch: All die Läden, die darauf angewiesen sind, dass die Menschen Geld ausgeben, bekommen dann ein Nachfrageproblem. Bäcker, Friseure, Juweliere, Boutiquen und so weiter. Das ist bereits jetzt zu sehen. Die Konsumstimmung ist auf Rekordtief, die Gefahr einer Pleitewelle in Innenstädten liegt in der Luft. Nur gegen die Mondpreise für Energie hilft das eben nicht.

Dafür bräuchte es eher Investitionen in Wärmepumpen und Solarpaneele, in Hausdämmungen und Windkraftanlagen, in Wasserstoff und Güterverkehr auf der Schiene. Teurere Kredite bewirken aber gerade das Gegenteil, sie verhindern Investitionen. Wenn die Zentralbank das Zinsniveau hochschraubt, muss der Staat wieder mehr Zinsen auf seine Staatsanleihen zahlen. Unter den Bedingungen der Schuldenbremse bedeuten mehr Zinsausgaben weniger Raum für andere Ausgaben. Und das gewiss nicht, weil Geld per se knapp ist, sondern weil die Schuldenbremse den Handlungsraum politisch einschränkt – ein wichtiger Unterschied! Private wie öffentliche Investitionen zu verteuern ist kontraproduktiv, wenn das Angebot an Energie ausgeweitet werden soll. Genau diese Investitionen braucht es jedoch, um grüner und effizienter zu werden – und unabhängiger von Russland.

Obendrein ist es riskant, Kredite teurer zu machen. Bestes Beispiel: Bauzinsen. Die haben sich seit Jahresbeginn verdreifacht. Wenn die Kalkulation für die Eigenheimfinanzierung nicht mehr aufgeht, drohen Kreditausfälle. Je mehr die EZB an der Zinsschraube dreht, desto riskanter wird das Kreditgeschäft. Je mehr Kredite ausfallen, desto wahrscheinlicher wird aus der Zinserhöhung eine handfeste Finanzkrise.

Zweitens soll die Zinserhöhung einen psychologischen Effekt haben. Liberale Ökonom:innen haben sich der Theorie der Zinserwartungen verschrieben. Damit ist gemeint: Die EZB soll dafür sorgen, dass die Leute stabile Preise erwarten. Denn hohe Inflationserwartungen führten am Ende tatsächlich zu einer hohen Inflation. Etwa, weil die Leute geplante Einkäufe und die Firmen geplante Investitionen vorziehen, solange die Preise noch günstiger sind und dadurch die Wirtschaft überhitzt. Oder weil die Gewerkschaften in Tarifverhandlungen höhere Löhne fordern und durchsetzen. Und dies fürchtet die Zentralbank, weil sie die Kosten für die Firmen treiben und im schlimmsten Fall eine Lohn-Preis-Spirale befeuern würden.

Aus diesem Grund schreibt die Bundesbank: »Dauerhafte Preisstabilität ist daher nur dann möglich, wenn die Inflationserwartungen stabil und niedrig sind.« Die Idee: Die EZB müsse nur klar genug kommunizieren, welche Inflationsrate sie anstrebt, und schon würden sich alle Wirtschaftsakteure anpassen. Sollte die Tonspur der EZB nicht reichen, könne sie mit der Zinspolitik ein Ausrufezeichen setzen. Bundesbank-Präsident Joachim Nagel sagte passend dazu neulich: »Um eine Entankerung der Inflationserwartungen zu verhindern, sollte das Eurosystem Zweifel an seiner Entschlossenheit beim Kampf gegen die Inflation daher gar nicht erst aufkommen lassen.«

Die Theorie ist zynisch und an der Wirklichkeit vorbei. Zynisch ist sie, weil sie eine Drohung an die Arbeiter:innen ist. Runtergebrochen lautet sie so: Fordert nicht zu viel Lohn, sonst müssen wir die Wirtschaft bremsen und eure Jobs vernichten. Das ist Inflationskontrolle auf dem Rücken derer, die arbeitslos sind oder den schwersten Stand auf dem Arbeitsmarkt haben. An der Wirklichkeit vorbei geht sie erstens, weil Otto Normalverbraucher:innen natürlich ihre Inflationserwartungen nicht definieren und erst recht nicht ihre Einkäufe danach ausrichten. Das scheint der Bundesbank fremd zu sein, die fragt die Erwartungen nämlich jeden Monat per Online-Panel ab: »Was denken Sie, welchen Wert wird die Inflationsrate in den kommenden zwölf Monaten/fünf Jahren/zehn Jahren im Durchschnitt annehmen?«, so die Frage aus dem Panel. Fällt die Antwort zu hoch aus, ist das ein Indiz für die EZB, den Zinshammer zu zücken.

Zweitens ist sie an der Wirklichkeit vorbei, weil Gewerkschaften in den letzten Jahren oft nicht einmal die Zielinflation von zwei Prozent in den Tarifverhandlungen durchsetzen konnten. Die Abschlüsse lagen regelmäßig darunter. Davon, dass sie eigentlich noch den Produktivitätsfortschritt obendrauf verhandeln müssten, reden wir besser erst gar nicht. Und davon, dass mehr als jeder zweiter Arbeitsvertrag gar nicht an Tarifverträge gebunden ist, besser auch nicht. Dass Beschäftigte, die ohne Gewerkschaft für sich selbst verhandeln, ihre Lohnforderungen an akademischen Inflationserwartungen oder Zins-Botschaften der Zentralbank orientieren, ist schlicht realitätsfern. Damit fällt die Theorie der Inflationserwartungen als Küchenpsychologie in sich zusammen.

Der dritte Kanal ist der Wechselkurs. Die Wirkung verläuft jedoch über drei Ecken und ist sehr prämissenlastig. Hohe Zinsen sollen Anleger in den Euro locken. Je mehr Anleger:innen ihre US-Dollar gegen Euro tauschen, desto mehr gewinnt der Euro gegen den US-Dollar an Wert und desto weniger Euro müssen wir für unsere Ölimporte zahlen. Importe würden also günstiger, so die Theorie. Die Praxis ist anders. Wer den Euro-US-Dollar-Kurs vorhersagen will, muss Kaffeesatz lesen oder Glaskugeln deuten können. Es gibt bis heute kein ökonomisches Modell, das Wechselkurse verlässlich prognostizieren kann. Das ist auch kein Wunder, denn der Wechselkurs hängt von etlichen Dingen ab, nicht nur vom Zins. Vielmehr werden Preise an Finanzmärkten von Spekulation und Herdenverhalten getrieben. Jede News lässt die Herde in die eine oder andere Richtung rennen. Ganz kurzfristig kann eine Zinserhöhung den Euro also stärken. Doch darauf zu setzen und die Kollateralschäden in Kauf zu nehmen wäre fahrlässig. Außerdem würde man sich auf einen Zinswettlauf gegen die mächtigste Zentralbank der Welt, die amerikanische Fed einlassen. Ob das eine kluge Idee ist?

Gegen Gasmangel und gebrochene Lieferketten ist geldpolitisch kein Kraut gewachsen. Statt die Zinsen aus purem Aktionismus hochzutreiben – EZB-Präsidentin Christine Lagarde kündigte bei der letzten Pressekonferenz noch weitere Erhöhungen an –, sollte die EZB die Füße still und die Zinsen niedrig halten. Das würde wenigstens Investitionen erleichtern. Ökonom:innen wiederum sollten ihre Theorie hinterfragen und die 15 Jahre blanker Überforderung der EZB zur Kenntnis nehmen. Warum nicht die Aufgaben neu verteilen? Auf stabile Preise hat die Regierung viel mehr Einfluss als die EZB. Wirtschaftsminister Robert Habeck mit der Energiewende, Finanzminister Christian Lindner mit der Fiskalpolitik und Arbeitsminister Hubertus Heil am Arbeitsmarkt.

Maurice Höfgen ist Ökonom und Betriebswirt. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag.

Geschrieben von:

Maurice Höfgen

Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpo­litik

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