Wirtschaft
anders denken.

Wie schwach ist die demokratische Linke derzeit, Herr Neckel?

Die Schwäche der Linken ist unübersehbar, sagt der Soziologe Sighard Neckel. Die SPD habe sich mit Hartz IV als Partei und Milieu zersetzt und einer Politik für die ArbeitnehmerInnen fast das Genick gebrochen.

27.03.2017
Soziologe Sighard Neckel im GesprächFoto: A.Varnhorn
Sighard Neckel, Soziologe, ist Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel an der Universität Hamburg. Seine Themen: soziale Ungleichheit, Finanzmarktkapitalismus, Refeudalisierung moderner Gesellschaften. Von ihm erschienen zuletzt »Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt« (2010) u.a. mit Claudia Honegger; »Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Leistungsgesellschaft« (2013).

OXI: Was sagt es über die demokratische Linke, dass nun rechte nationalistische Bewegungen das Sagen haben, wenn es darum geht, die Globalisierung zu gestalten oder sie gar zurückzudrehen?

Sighard Neckel: Ich nehme als demokratische Linke einmal die sozialdemokratisch-sozialistischen Parteien des Westens, die in den vergangenen 20 Jahren auch in Regierungsverantwortung waren. Diese Linke hat den historischen Fehler begangen, dass sie sich zum politischen Bündnispartner der Finanzmärkte machte und zudem unkritisch dazu beitrug, die wirtschaftliche Globalisierung zu beschleunigen. Damit schadeten sie vor allem ihrer eigenen Wählerschaft. In allen OECD-Staaten wurden die sozialistischen Wählerschichten zu den Verlierern der Globalisierung, der deregulierten Arbeitsmärkte und der entfesselten Finanzmärkte. Lassen Sie mich hier noch einen Punkt anfügen, der mir sehr wichtig ist. Es wird oft unterschätzt, wie gravierend etwa die Hartz-IV-Gesetze auf das Selbstbewusstsein der Betroffenen wirken. Denn diese Gesetzgebung entzieht der biographischen Arbeitsleistung von Lohnabhängigen materielle Anerkennung. Der Wert von Arbeit ist jedoch schon immer ein zentrales moralisches Element in der Arbeiterkultur gewesen. Das hat den Kern der Sozialdemokratie ausgemacht und auch zum normativen Innenleben unserer Gesellschaft insgesamt gehört. Mit dieser Gesetzgebung hat die Sozialdemokratie sich zuerst als Milieu und dann als Partei zersetzt.

Nennen wir die Namen: Die Regierungschefs Gerhard Schröder, Lionel Jospin, Bill Clinton und Tony Blair tragen also für die heutige Lage eine Mitverantwortung, weil sie faktisch Geburtshelfer dieser autoritär-nationalistischen und protektionistischen Bewegungen sind.

Ja. Ohne diese falsche Politik sozialdemokratisch-sozialistisch geführter Regierungen hätten die nationalistischen Bewegungen nie diesen Raum einnehmen können. Wäre die Politik der Deregulierung von konservativen oder rechten Regierungen umgesetzt worden, dann hätten wir heute zwar ökonomisch eine ähnliche Situation. Aber politisch hätten wir eine andere Lage, da dann die Milieus der linken Politik noch intakt geblieben wären. Und heute sehen wir, wie sehr dieser Zerfall auch dazu beiträgt, die Demokratie insgesamt zu destabilisieren.

Ohne falsche Politik sozialdemokratisch-sozialistisch geführter Regierungen hätten nationalistische Bewegungen nie den Raum nehmen können.

Tweet this

Aber diese Parteien, ob die SPD oder PS oder US-Demokraten, haben doch spätestens mit der Finanzmarktkrise 2008/2009 geschworen, sie würden beispielsweise die Finanzmärkte wieder regulieren und allzu unsoziale Gesetze korrigieren. Nützt dies alles nichts?

Ihnen wird nicht mehr geglaubt. Peer Steinbrück zum Beispiel hat als Bundesfinanzminister den Finanzmärkten weitgehend freies Spiel gelassen, hat die Agenda 2010 mitgetragen. Und tritt dann als Kanzlerkandidat der SPD an, der sich kritisch zur Finanzindustrie äußert. Wer sollte ihm das abnehmen? Auch deshalb war politisch gesehen die Finanzmarktkrise vor allem Wasser auf die Mühlen rechter Nationalisten.

Wie konnte es zu diesem Versagen der damaligen sozialdemokratischen Führungseliten kommen? Die haben sich ja in der Regierungsverantwortung im Grundsatz von allem abgewandt, was ihren Parteien zuvor hoch und heilig war.

Nun können wir nicht alle sozialdemokratischen Führungen über einen Kamm scheren. Und wir müssen berücksichtigen, dass es Ende der 1090er-Jahre tatsächlich eine Krise gab, auf die eine Antwort gefunden werden musste. In Deutschland hatten wir damals bis zu fünf Millionen Arbeitslose. Aber es wurden die falschen Antworten gegeben. Man dachte, wenn wir die Finanzmärkte deregulieren, setzen wir eine ungeheure Wertschöpfung frei, die uns auch mehr Steuereinnahmen bringt. Stattdessen haben uns die Finanzmärkte Milliarden an Steuern gekostet.

Nochmal: Warum wählten diese Führungseliten diesen Weg? Der damalige Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine verkörperte 1998/1999 den anderen Weg: Er wollte die Finanzmärkte in Zusammenarbeit mit Frankreich regulieren, er wollte in moderater Form Unternehmenssteuern erhöhen. Es gab also eine Alternative. Waren es die sogenannten Sachzwänge, die Macht der Finanzmärkte, die Schröder, Clinton und andere in ihren Weg zwangen?

Wir dürfen nicht vergessen, dass es seit 1989 eine Euphorie für die Globalisierung gab, die sich damals mit dem politischen Aufbruch der Demokratie schmücken konnte. Wenn die Grenzen fallen und sich die Menschen frei bewegen können, sollten auch Waren und Kapital grenzenlos gehandelt werden können. Jede Beschränkung der Kapitalfreiheit nahm sich als rückwärtsgewandt aus. In dieser Zeit ist auch eine Art Entfremdung zwischen den alten Wählerschichten und dem neuen sozialdemokratischen Führungspersonal entstanden. Das ist ja die Ironie, dass Personen an der SPD-Spitze standen, die den alten sozialdemokratischen Traum verwirklicht hatten, aus engen Verhältnissen aufgestiegen zu sein, wie Gerhard Schröder und Sigmar Gabriel. Dass gerade sie politisch keine Rücksichten mehr auf ihre Herkunftsmilieus nahmen, hatte schwerwiegende Folgen.

Wie können diese Parteien denn einen Neuanfang machen?

Sozialdemokratische Parteien sind darauf angewiesen, dass ihnen die unteren und mittleren Schichten die politische Unterstützung nicht weiter entziehen. Deshalb müssen sie glaubwürdig deren sozialen Anliegen vertreten. Das ist ja der Versuch von Bernie Sanders gewesen, der in den Vorwahlen der Demokratischen Partei Hillary Clinton das Leben ziemlich schwer gemacht hat. Die Sozialdemokraten sollten sich die Kritik an einer schrankenlosen Globalisierung, an der Vorherrschaft der Finanzindustrie und an der Vertiefung sozialer Ungleichheit wieder zu eigen machen und konkrete Vorschläge entwickeln, wie das geändert werden kann. Bisher lebt vor allem der rechte Nationalismus von dieser Kritik. Und spricht damit reale Probleme an, die politisch von der Linken nicht mehr ausreichend repräsentiert waren.

Es gibt die These, die sozialdemokratischen und linken Parteien hätten sich nicht mehr um Fragen der sozialen Ungleichheit gekümmert, sondern auf Fragen der Kultur, der ethnischen und sexuellen Gleichberechtigung, der persönlichen Entfaltung konzentriert. Teilen Sie diese These?

An dieser These ist nicht alles falsch. Doch wäre es fatal, die kulturelle Liberalisierung gegen die ökonomische Teilhabe auszuspielen. Sozialdemokratische und sozialistische Parteien sollten gerade beide Elemente verbinden — kulturelle Liberalität und soziale Gerechtigkeit. In den 1970er-Jahren ist dies der Sozialdemokratie in der Bundesrepublik oder in Skandinavien gelungen, weil sie eine progressiv eingestellte Mittelschicht und die Arbeiterschaft gleichermaßen angesprochen hat. Das ist einerseits Geschichte, weil sich diese Schichten vielfach verändert oder in Teilen gar aufgelöst haben. Aber es bleibt eine zentrale Aufgabe, unter heutigen Bedingungen ein neues gesellschaftliches Bündnis zu schaffen, das die Verbindung von liberal-demokratischer Gesellschaft und ökonomischem Ausgleich in den Mittelpunkt rückt und so den autoritären Leitbildern des inneren Bürgerkrieges auf Seiten der nationalistischen Rechten etwas entgegensetzt.

Dieser Dreiklang ist Ihnen wichtig: eine Politik, die wirtschaftliche Solidität gleichermaßen mit sozialem Ausgleich und liberaler Demokratie verbindet. Gibt es denn ein Land, in dem Sie auch nur annähernd eine solche Politik erkennen können?

Nein. Aber in Deutschland besteht bei den kommenden Bundestagswahlen immerhin die Chance, mit einer demokratischen und sozialen Politik den rechten Nationalismus einzudämmen, ihn bei höchstens zehn Prozent und damit klar außerhalb jeglicher Regierungsverantwortung zu halten. Die Frage ist, ob die deutsche Gesellschaft diese Chance nutzt.

Und da muss dann eine Mitte-Links-Regierung von SPD, Grünen und Linkspartei herauskommen? Oder kann das auch eine Regierung Merkel, die eine sozialere Politik als bisher macht?

Ich glaube, Angela Merkel hat keine Chance mehr, ein solches Programm glaubhaft zu vertreten.

Dann also muss es eine Mitte-Links-Regierung werden.

Das ist eine Option. Aber nur wenn sich alle drei Parteien anstrengen, über ihre eigentlichen Wählerschichten hinaus bündnisfähig zu werden. So wird die Linkspartei glaubwürdiger, wenn sie sich nicht nur von den Autokraten in den USA und der Türkei distanziert, sondern auch von dem in Moskau. Die Grünen müssten begreifen, dass eine Politik der Umverteilung und der sozialen Gerechtigkeit auch im Interesse ihrer eigenen Wählerschaft ist. Und die Sozialdemokraten müssen entschieden Abschied von der Politik der Deregulierung nehmen.

Ebenfalls auf oxiblog.de erschienen: Wie stark ist die Rechte, Herr Neckel? und Warum bringen Märkte keine Demokratie, Herr Neckel?

Das Interview führte:

Wolfgang Storz

Kommunikationsberater

Hinweis

Guter Journalismus ist nicht umsonst…

Die Inhalte auf oxiblog.de sind grundsätzlich kostenlos. Aber auch wir brauchen finanzielle Ressourcen, um oxiblog.de mit journalistischen Inhalten zu füllen. Unterstützen Sie OXI und machen Sie unabhängigen, linken Wirtschaftsjournalismus möglich.

Zahlungsmethode

Betrag