Die zwei Gesichter des Konservatismus
Der Konservatismus ist im Umbruch. Ihm steht eine Phase der Ungewissheit bevor.
Friedrich Merz ist angekommen. Fast zwanzig Jahre, nachdem er für die damalige Parteivorsitzende und Noch-Nicht-Kanzlerin Angela Merkel auf den Vorsitz der Unionsfraktion im Bundestag verzichten musste, ist er nun dort, wo er hin wollte: Als Parteivorsitzender wurde im dritten Anlauf Merkels Nachfolger, und in der Bundestagsfraktion musste Ralph Brinkhaus nach vergeblichen Dagegenstemmen Friedrich Merz nun ähnlich weichen, wie Merz es aus Parteiräson zugunsten Merkels hatte tun müssen. Damit sind jedoch sind keineswegs die Probleme der deutschen Christdemokratie geklärt oder diejenigen des politischen Konservatismus, zu dessen Lager sie gehört. Ihr nahestehende Intellektuelle bescheinigen der CDU die Notwendigkeit einer Generalrevision. Ihre Probleme seien nicht bloß dem Augenblick der vergangenen Bundestagswahl oder einer unglücklichen Kampagne geschuldet, sondern strukturell. Unklarheiten, Selbstzweifel und Umbrüche treffen konservative Strömungen nicht nur in Deutschland, sondern in vielen kapitalistischen Ländern. Es lohnt, eine begriffliche, zurückblickende und vergleichende Betrachtung zu unternehmen, um zu klären, welche Schwierigkeiten konservative Politik jüngeren Entwicklungen verdankt, welche struktureller Natur sind und nur im Lichte gegenwärtiger Ereignisse sichtbar wurden. Das erlaubt wiederum Rückschlüsse darauf, was dem Konservatismus zur günstigen Gelegenheit werden könnte, auf welchem Gebiet also eine Friedrich Merz-CDU sich womöglich um Profilierung bemühen wird.
Zu den Anstoß gebenden Problemen konservativer Strömungen zählen etwa die gegenwärtigen weltpolitischen Umbrüche, der Stress durch die Corona-Pandemie oder die Konkurrenz durch radikal rechtspopulistische Bewegungen. In den USA entwickelten sich die Republikaner schon spätestens seit den 1980er Jahren immer weiter nach rechts, bis sie von Donald Trump nur noch wie eine reife Frucht gepflückt zu werden brauchten. Der konservative Vordenker David Brooks veröffentlichte jüngst einen Abgesang, der den politischen Konservatismus in den USA auf das Niveau von FoxNews und eine politische Praxis der Wahlrechtsbeschränkungen für ethnische Minderheiten reduziert sieht. In Großbritannien ist Boris Johnsons ›Partygate‹ genannter Skandal nur offensichtlichstes Symptom einer ins Realsatirische reichenden Dekadenz konservativer Eliten, die sich auch dank des Totalausfalls der Labour Party unter Keir Starmer als Opposition breit machen konnte. In Frankreich machen sich zwei radikal rechte Kandidaturen bei der Präsidentschaftswahl 2022 Konkurrenz. Der zum dritten Mal antretenden Marine Le Pen vom Rassemblement National (RN) ist der offen rassistisch auftretende Eric Zemmour dicht auf den Fersen, viele RN-Funktionäre sind bereits zu diesem übergelaufen. Den Druck von rechts spürend, reaktivierte die neogaullistische Präsidentschaftskandidatin Valérie Pécresse die menschenverachtende Rhetorik ihres 2012 abgewählten Parteifreundes Nicolas Sarkozy, man müsse die Banlieues mit dem ›Kärcher‹ reinigen.
So könnte man ein Spektrum umreißen von Strömungen, die heutzutage die real existierenden Protagonist:innen konservativer Politik stellen, oder die sich – in welcher Form auch immer – auf das Label ›konservativ‹ berufen. Am einen Ende fände man die rechtsnationalistischen Regierungsparteien in Polen und Ungarn, die die US-Republikaner so bewundern und denen sie darin nacheifern, mit immer skandalöseren und durchsichtigeren Manipulationen ihre Machtbasis auch gegen für sie nachteilige Wahlergebnisse abzusichern. Am anderen Ende fände man den selbsterklärt konservativen Journalisten Andrew Sullivan, der in vielen seiner Positionen (Gegnerschaft zu Donald Trump, Unterstützer Obamas, für Umverteilung von Reichtum, Legalisierung von Drogen, Reform des US-Justizwesens und der Polizei, entschiedene Klimaschutzpolitik, einer der ersten Fürsprecher der ›Ehe für alle‹) von heutigen Linksliberalen kaum zu unterscheiden ist. Irgendwo dazwischen fände man die CDU der Ära Merkel, die anders als der französische Neogaullismus sich nicht von radikal rechtspopulistischen Strömungen hat nach rechts drücken lassen und deren – zumal nicht anerkennte – parteieigene rechte Vereinigung ›Werteunion‹ im Unterschied etwa zum Trumpismus eine bemitleidenswert-machtlose Veranstaltung geblieben ist. Anders als Sullivan hat die Merkel-CDU die gesellschaftspolitischen Öffnungen und Liberalisierungen der vergangenen Jahre nicht selbst betrieben. Anders als die Orbáns und Kaczyńskis hat sie diese auch nicht bekämpft, sondern sich von irgendwann mehrheitsfähigen Veränderungen und sozialen Bewegungen beeindrucken und mittragen lassen. Die Unionsparteien haben sich so wenig erfolgreich nach rechts drücken lassen, weil die AfD sich schon eine ganze Weile offen einer reaktionären Utopie verschrieben hat. Sie will den sozialen Wandel nicht moderieren, bremsen oder lenken, sondern umkehren, und bringt sich dadurch in Gegnerschaft zur liberalen Demokratie schlechthin. Auf demokratischem, gewaltfreiem Wege wäre nämlich nicht zu erreichen, was nicht wenigen AfD-Aktiven als Rückabwicklung der behaupteten ›Umvolkung‹ in der Ära Merkel vorschwebt.
Konservatismus im Widerspruch
Gerade für Linke ist die Beobachtung und Analyse konservativer Strömungen unverzichtbar. Sie ist nötig nicht nur zur Schärfung der eigenen Argumente gegen die Intellektuellen des Klassenfeinds. Die Aufstellung konservativer Kräfte, des Ausarbeitungsgrades ihrer ideologischen Ansprache, ihre Trägerschichten, ihre Strategien, Erfolge, Misserfolge und Sackgassen verraten immer auch einiges über den Zustand der Gesellschaft sowie über Möglichkeiten und Grenzen linker Politik bei derzeitigen Kräfteverhältnissen. Sicherlich notwendig ist dabei die Ideologiekritik konservativer Intellektueller von Edmund Burke über Joseph De Maistre bis William F. Buckley Jr., von Udo di Fabio über Paul Nolte bis Andreas Rödder. Aber die Ideologiekritik ist beileibe nicht hinreichend, weil die christdemokratische, gaullistische oder konservative Praxis oft genug wenig gemein hat oder gar konträr zu dem ist, was Vordenker ersonnen haben. Im deutschen Fall sollte man auch nicht der naheliegenden, aber irreführenden Spur folgen, die Schwäche der Christdemokratie sei auf die Schwäche des Christentums zurückzuführen. Nicht erst der Ende Januar wieder aufgeflammte Missbrauchsskandal bringt die Kirche in Verlegenheit. Auch unabhängig davon verloren die christlichen Kirchen so kontinuierlich Mitglieder, dass 2021 das letzte Weihnachten mit christlicher Bevölkerungsmehrheit in Deutschland gewesen sein könnte. Eine selbstverständliche Verbindung von Glaubensbekenntnis und Stimmabgabe gab es ohnehin nicht; evangelische Kirchentage erschienen Beobachtenden als stimmungsmäßig und inhaltlich nahe an Delegiertenkonferenzen der Bündnisgrünen.
In seinem Abgesang fasste David Brooks zusammen, was er als Kernaspekte konservativer Weltauffassung begreift. Seinem Verständnis würden vermutlich viele Parteigängerinnen und Unterstützer von CDU, CSU, Tories oder Les Républicains zustimmen. Im Unterschied zur Französischen Revolution, die die Gesellschaft auf Grundlage der Vernunft umgestalten wollte, beruft sich die konservative Denktradition auf erkenntnistheoretische Vorsicht, auf Demut vor dem geschichtlich Vorgefundenen, Unbekannten und Komplexen. Daraus leite sie ihre Überzeugung ab, dass Wandel immer behutsam und kleinschrittig (anstatt radikal oder revolutionär) vollzogen werden solle. Die Vernunft sei nicht hinreichend, bisweilen an Weisheit geringer einzuschätzen als Gewohnheiten und spontane Gefühlsregungen, die gewohnheitsmäßig einverleibt sind und auf Traditionen aufbauen, die sich über Jahrzehnte und länger gebildet und fortgepflanzt haben. Das verleite Konservative zur Wertschätzung und Pflege althergebrachter Gemeinschaftsbildungen wie Familien, Kirchen, Schulen, Berufsständen usw. »Die Tugend des Konservatismus«, so Brooks, »liegt darin uns zu lehren, demütig zu sein darüber, was wir wissen; es versteht die menschliche Natur und begreift, dass wir in erster Linie eine Ansammlung unbewusster Prozesse, tiefer Emotion und widerstreitender Begehren sind«.
Brooks Werte- und Überzeugungskatalog liest sich elegant, aber man muss nicht erst auf Donald Trump, die PiS oder Fidesz blicken um sich zu fragen, wie viel die hehre Rhetorik mit der politischen Wirklichkeit noch gemein hat. Von der aggressiven Außenpolitik eines Ronald Reagan etwa, des Säulenheiligen der US-Republikaner, führt zu den von Brooks zitierten Denkern kaum eine Spur zurück. Ebenso fiele es schwer, die Zerstörung der Gemeinschaften von Minenarbeitern oder den erbitterten Kampf gegen die kommunale Selbstverwaltung durch die Thatcher-Regierung als politische Verlängerung von Demut und Vorsicht zu begreifen. Es scheint insofern einige Plausibilität zu liegen in der Unterscheidung zwischen Strukturkonservatismus und Wertkonservatismus, die der Sozialdemokrat Erhard Eppler in den 1970er Jahren einführte. Während er den Wertekonservatismus, d.h. die Bewahrung der Natur (oder ›Gottes Schöpfung‹), solidarischer Gemeinschaften und Menschenwürde für die Sozialdemokratie reklamierte, schrieb dem Strukturkonservatismus zu, was die Ideologiekritik der konservativen Denk- und Politiktradition insgesamt vorhielt: Dass sie, ob beabsichtigt oder nur faktisch, am Ende des Tages Macht- und Herrschaftspositionen schütze, von den bestehenden Strukturen gestützt würden. Epplers Unterscheidung traf durchaus einen Punkt, mussten doch ökologische Anliegen fast immer gegen christdemokratische (allerdings auch sozialdemokratische und in technische Machtbarkeit verliebte wirtschaftsliberale) Strukturkonservative durchgesetzt werden.
Konservative Instinkte gegen konservativen Erfolg
Zu den konservativen Grundinstinkten spätestens seit der Französischen Revolution, die sich bis in die heutige Zeit fortsetzen konnten, zählt gerade in Deutschland die Angst vor dem Pöbel. Heute trägt sie gewiss nicht mehr das Gesicht konterrevolutionärer Agitation, sondern der konservative Instinkt weist vielmehr dahin, mit Skepsis und Misstrauen auf zu viel geballte Volksmacht zu blicken. Er wendet sich deswegen zum einen oftmals gegen Formen direkter Demokratie oder andere Formen nicht-elitärer Macht von unten, gegen die Gewerkschaften oder fortschrittliche soziale Bewegungen. Zum anderen unternimmt er Versuche, deren Reichweite von vornherein durch Dezentralisierung, Föderalisierung und Entpolitisierung einzugrenzen. Auf sein Konto gingen aber noch radikalere Abschottungen politischer Entscheidungsfragen von demokratischer Mitbestimmung wie etwa in Form unabhängiger Zentralbanken oder jüngst die Schuldenbremse. Beide entstanden als Kinder einer lange währenden, glücklichen Zweckehe von Konservatismus und Wirtschaftsliberalismus, gegenüber der die Sozialdemokratie in diesen und anderen Fragen kapitulierte. In jüngster Zeit aber wendeten sich gerade diese Ausgeburten konservativer Demokratieskepsis gegen diese selbst. Die Unionsparteien verspielten ihren möglichen Sieg bei der Bundestagswahl nicht zuletzt durch ihre bis dahin konsequent durchgehaltene, gezähmte Gremiendemokratie. Eine Direktwahl des Kanzlerkandidaten durch die Mitgliedschaft hätte wahrscheinlich einen Sieger Markus Söder ergeben, der in etlichen Kreisverbänden beliebter war als sein christdemokratischer Kontrahent Armin Laschet.
Auch die technokratische Abriegelung politischer Entscheidungen, die gerade auf Betreiben der Unionsparteien in der Europäischen Union so konsequent betrieben wurde, wendet sich jetzt gegen die Absichten ihrer Autorinnen und Autoren. Zuerst unter dem politischen Druck, das Auseinanderbrechen der Euro-Währungsgebietes in der Eurozone zu verhindern, dann unter dem Eindruck linker und rechter Anti-Establishment-Parteien in immer mehr Regierungen und schließlich zur Abwende einer wirtschaftlichen Kernschmelze durch die Covid 19-Pandemie hat sich die Europäischen Zentralbank (EZB) von alten monetaristischen und ordoliberalen Dogmen der Geldpolitik abgewendet. Nicht zufällig trieben die Programme der EZB das nach wie vor dogmatisch ordoliberal geprägte deutsche Bundesverfassungsgericht mehrfach zu Urteilen, die außerhalb Deutschlands nur Kopfschütteln hervorbrachten. Das Gericht hat die EZB zur Ordnung gerufen, sie habe sich gefälligst wie einstmals die Deutsche Bundesbank zu verhalten. Tatsächlich aber hat die EZB unter dem Schutzschirm einer Rhetorik der Kontinuität einen Wechsel zu einem ›technokratischen Keynesianismus‹ vollzogen, der kreditfinanzierte Staatsausgaben nicht mehr grundsätzlich misstrauisch betrachtet, Finanzmärkte dagegen nicht mehr per se für rational und effizient hält und sogar eine – wenn auch bisher ›weiche‹ – Lenkung privater Kreditvergabe zu ökologischen Zwecken betreibt. Mit der deutlichen Abweichung von ihrem bisherigen Mandat kommt die EZB durch, weil sie – darin erstaunlich ›merkelistisch‹ – ihren Kurswechsel nie öffentlich als solchen deklariert hat und von politischer Einflussnahme abgeschottet ist. Was konservative Ökonomen zur Weißglut treibt, die neue, unkonventionell-undogmatische Geldpolitik, ist nur möglich durch die im Verfassungsrang stehende Unabhängigkeit der EZB. Ironischerweise wurde eben diese aber auf Drängen u.a. eben jener Ökonomen überhaupt erst festgeschrieben. Das konservative ›institutional design‹ schränkte die eigene Handlungsfähigkeit der EU in der Eurokrise soweit ein, dass irgendwann nur noch die EZB als eingriffsfähige Instanz übrigblieb. Zugleich verdankte sich der Handlungsdruck, dem die EZB nachgab einem finanzpolitischen Korsett von ebenfalls konservativer Handschrift. Was Konservative einst selbst betrieben, eröffnete erst Notwendigkeit und Möglichkeit eben dessen, was sie heute beklagen.
Das Paradox des Konservatismus
Am Ende des Tages hat ausgerechnet Andrew Sullivan, der homosexuelle Journalist vom linkeren Rand des konservativen Spektrums die Erfolgschancen des Konservatismus besser begriffen als viele derjenigen, die sehnlichst auf Friedrich Merz an der CDU-Spitze gewartet haben. Satte 26 Jahre bevor ein Urteil des Supreme Court die ›Ehe für alle‹ in den USA bundesweit durchsetzte, sprach sich Sullivan aus dezidiert konservativer Perspektive dafür aus, die Ehe auch für homosexuelle Paare zu öffnen. Warum? Weil, so, Sullivan, die Ehe einen (wenn auch willkürlichen und schwachen) Anker bedeute »im Chaos von Sex und Beziehungen, für das wir alle anfällig sind«. Sullivan argumentierte einerseits ganz im Sinne der konservativen Denker. Man erkenne an, »dass die Ehe nicht zu fördern, der menschlichen Tugend zu viel abverlangte«. Auch breitete er seine Reihe von Argumenten aus, die man in Deutschland von den Unionsparteien zu hören gewohnt war: Die Ehe sei als Institution notwendig für die Gesellschaft, für wirtschaftliche Absicherung und zur Sicherstellung der Kinderaufzucht. Diese In-Dienst-Stellung auch intimster Beziehungen in den gesellschaftlichen Strukturerhalt findet sich im konservativen Denken und Tun immer wieder. Sie widerspricht seinen Bekenntnissen zu Gefühlen und Gewohnheiten nicht weniger als seine o.g. technokratischen Strategien. Sullivans anderes Argument ist aber für eine konservative Hegemoniepolitik noch wichtiger. Weit davon entfernt, traditionell-konservative Werte zu untergraben, bedeute die ›Ehe für alle‹ ihre Verstärkung. Die Schwulenbewegung, die sich vormals gegen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft richtete, werde in diese miteinbezogen und so zu einer ihrer Nutznießerinnen.
Im Grunde dachte Sullivan nur weiter, was Samuel P. Huntington drei Jahrzehnte als Kern konservativer Ideologie und Praxis eingekreist hatte: Weit davon entfernt, wie andere ›Ismen‹ eine Überzeugung aus einem jederzeit wiedererkennbaren Set an Aussagen zu sein, sei Konservatismus eine positionale Ideologie. Konservatismus werde aktiviert, wenn überkommene Institutionen, Traditionen und Arbeitsteilungen unter Beschuss geraten, ihre Selbstverständlichkeit verlieren und sich rechtfertigen müssen. In diesem Sinne war Andrew Sullivans Plädoyer für die Ehe für alle tatsächlich ein kongenialer Schachzug. Er hatte begriffen: Je größer die Klientel der bürgerlichen Ehe und Kleinfamilie in der Gesellschaft durch Einbeziehung der Homosexuellen wird, desto aussichtsloser wird die radikale Infragestellung ihrer Zentralität, Bevorzugung und Unvermeidlichkeit. Und insofern irren auch die zahlreichen Kritikerinnen und Kritiker Angela Merkels, die ihr Verrat an christdemokratischen und konservativen Werten vorwerfen. Konservativ war Merkels Praxis als Bundeskanzlerin, nicht jedoch ihre thatcheristische Ausrichtung bis zum Antritt der Kanzlerschaft. Mit ihrem radikal wirtschaftsliberalen Leipziger Programm war es die frühe Merkel-CDU, die die Gewohnheiten, Instinkte und Sicherheitsbedürfnisse des deutschen Wählerinnen- und Wählerpublikums infrage stellte. Mit ihrem Bekenntnis zur Invasionspolitik George W. Bushs stellte sie sich gegen eine kriegsskeptische deutsche Öffentlichkeit. Ironischerweise machte dieser anfängliche abenteuerliche Kurs Angela Merkel umso glaubwürdiger als Schutzpatronin all dessen, was der sog. ›politischen Mitte‹ in Deutschland lieb und teuer ist. Nachdem sie Leipziger Programm und Bellizismus geopfert hatte, fühlten sich die Deutschen nirgendwo sicherer als bei ihr. Das Paradox des Konservatismus besteht darin, so Huntington, dass »der Konservatismus, der Verteidiger der Tradition, selber ohne Tradition ist; Konservatismus, der die Geschichte als Zeugin anruft, ist selbst ohne Geschichte«. Angela Merkel wirkte im Ergebnis konservativ, weil sie zuerst ungewollt die Leute gewahr werden ließ, was sie unterm Neoliberalismus zu verlieren hatten. Durch die Sozialliberalisierung der Geschlechter-, Einwanderungs-, Integrations- und Arbeitsmarktpolitik unter den Merkel-Regierungen haben im heutigen Deutschland mehr Menschen als zuvor etwas zu verlieren. Mit der frühen, wirtschaftsliberalen Merkel drohte Deutschland ein Verteilungskampf zulasten einer breiten Mehrheit. Die Politik der Kanzlerin Merkel hingegen verbreiterte die soziale Basis der Nutznießer:innen des Status Quo, wodurch es schwieriger wurde, diesen zu ändern. Kanzlerin Merkel folgte keinem Imperativ der Wirtschaftsliberalisierung, sondern einem der Pareto-Optimalität: Möglichst viele sollten gewinnen, ohne dass jemand verliert.
Anomalie oder verdrängte Kehrseite? Der strukturkonservative Appell ans ›Natürliche‹
Zwar gibt es keine Identität zwischen patriarchalen, völkischen oder sozialdarwinistischen Ideologien und der (struktur-)konservativen Weltauffassung. Aber es ist keineswegs zufällig, wenn beide immer wieder als ziemlich beste Freunde oder zumindest direkte Nachbarn auftreten. Das hat ganz wesentlich zu tun mit einem Aspekt moderner Gesellschaften, der den Konservatismus immer wieder herausfordert – nämlich dem Kapitalismus. Wie beschrieben wirkt Politik vor allem dann strukturkonservativ, wenn sie möglichst breite Bevölkerungskreise zu Nutznießerinnen von Institutionen macht. Im Umkehrschluss aktivieren dann Versuche, eben diese Institutionen zu reformieren oder verändern, eine starke Gegenwehr. Strukturkonservativer Reformopposition wird ein großes Stück Organisationsarbeit abgenommen, weil sie über ihren Nutzen an der Institution verbunden sind, und noch mehr, wenn diese Vorteile in ihre Lebensplanung eingegangen sind und sie die maßgeblichen Investitionen in ihren sozialen Status darum herum organisiert haben. Linke Versuche zur Reform mit dem Ziel, ungleiche Verteilung von Ressourcen und Chancen abzubauen, die mit diesen Institutionen zusammenhängen, beschwören dann regelmäßig einen Volkssturm herauf von Leuten, die andernfalls nie politisch in Erscheinung treten. Sie entwickeln oft auch ohne jegliche Inspiration rechter Ideologen einen spontanen Konservatismus des Alltagsverstandes, der den Angriff auf ihren Besitzstand als ›ideologisch‹, die eigene Position aber als das Normalste der Welt versteht. Weil die Nutznießer:innen der angekündigten Veränderungen oft nicht im selben Umfang oder gar nicht mobilisierbar sind, erleben wir allzu oft das Scheitern der fortschrittlichen Reform. So oder ähnlich jedenfalls geschehen bei nahezu jeder angekündigten Reform des gegliederten Schulsystems, Durchsetzung schulischer Inklusion, bei der Abschaffung des Ehegattensplittings oder bei Versuchen, Geflüchteten-Unterkünfte in besserverdienenden Nachbarschaften anzusiedeln. Die vorgeblich ideologiefreie Sprache der Gegenwehr verrät allerdings auch die inneren Triebkräfte der strukturkonservativen Mobilisierung. Weit davon entfernt, Demut, Mitgefühl, Vorsicht oder eine Tugend der Selbstbeschränkung zu aktivieren, beschwört der konservative Instinkt hier Ängste (vor den Fremden, den Kriminellen), ein rigides Anspruchs- und Statusdenken (»in ein- und dieselbe Schulklasse mit DENEN? Nicht mit MEINEM Kind!«) sowie eine ganz schnöde Kalkulation (man schätzt den drohenden Wertverfall des Wohneigentums, des Bildungstitels usw.). Wie entschieden man die Steuervorteile durchrechnet hat selten damit zu tun, wie liebeserfüllt die bürgerliche Ehe zu diesem Zeitpunkt noch ist. Diese wenig appetitlichen Gefühlsregungen, nicht die hehren Worte eines Edmund Burke, Russell Kirk oder James Q. Wilson sind das ehrlichste, weil spontane Kennzeichen für den Konservatismus des Alltagsverstandes.
Die konservative Reaktion bremst nicht nur eine Politik zum Abbau sozialer Ungleichheiten, sie vermindert auch die Problemlösungsfähigkeit der Politik insgesamt. Die Dynamik kapitalistischen Produktionsweise erzeugt unentwegt Probleme, die Konservativen eigentlich Schweißperlen auf die Stirn treiben müssten. »Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht«, fassten Marx und Engels im Kommunistischen Manifest die anti-konservative Tendenz des Kapitalismus zusammen. Nicht zuletzt wegen der strukturkonservativen Kräfte lassen sich die kapitalistisch erzeugten Gegensätze, Abstiege und Ausschlüsse aber nicht beheben, sondern oft nur repressiv befrieden. Aber auch die repressive Ruhigstellung wird irgendwann teuer: auf Standortschließungen, Deindustrialisierung, ›Entlassungsproduktivität‹, Massenarbeitslosigkeit, abgehängte Regionen und ›Problemviertel‹ folgen höhere Sozialversicherungsbeiträge, Kriminalität, Sachbeschädigung, Gewalt. Diese Zustände rufen irgendwann auch konservative Mahner auf den Plan, spätestens dann, wenn sie auf dem Schirm der materiell halbwegs gesicherten und sich selbst für unideologische Leistungsträger haltenden Klientelgruppen auftauchen. In seinem Essay zur Ehrenrettung des Konservatismus berichtet David Brooks von seinem Erschrecken über den in Großbritannien legendären konservativen Abgeordneten Enoch Powell, der 1968 in seinem berüchtigten, als ›Rivers of blood‹-Rede bekannt gewordenen Vortrag mit rassistischer Endzeitstimmung auf die Probleme der britischen Einwanderungsgesellschaft reagierte. Ein ähnliches Erschrecken erlebte die US-amerikanische Öffentlichkeit Mitte der 1990er, als Charles Murray mit Richard Herrnstein das Buch ›The Bell Curve‹ veröffentlichte, das soziale Missstände auf Intelligenzunterschiede zurückführte, die er als erblich ansah. Seine sozialdarwinistische Argumentation nahm viel von dem vorweg, was 15 Jahre später Thilo Sarrazin in seinem Bestseller ›Deutschland schafft sich ab‹ ausbreitete. Die Botschaft der Powells, Murrays und Sarrazins ist klar: Wenn sich die Statusunterschiede biologischen Unterschieden verdanken, dann kann es sich offenkundig nur um Verschwendung und im Zweifelsfall Betrug handeln, wenn die Politik den Sozialfällen das eigene, hart verdiente und besteuerte Geld hinterherwirft. Plausibler ist, dass ähnlich wie oben für die Eurokrise beschrieben, die konservative Beschränkung der Politik auf einen engen Wendekreis um Besitzstände eben jene Folgeprobleme mit erzeugt, die er dann später beklagt. Sind aufgrund konservativer Fesselung und Entmachtung der Demokratie keine Industrie-, Beschäftigungs-, Stadtentwicklungs- und Bildungspolitik keine Verbesserung der Lebenschancen für Unterprivilegiert durchsetzbar, drohen eben jene Zustände, an denen Konservative, angestachelt durch die Powells, Murrays und Sarrazins Anstoß nehmen. Dem konservativen Alltagsverstand liegt jedoch die biologistische Deutung der Probleme näher. Wie auch David Brooks zugesteht, gerät im Konservatismus die erkenntnistheoretische Bescheidung zum Anti-Intellektualismus, das Gemeinschaftsdenken zur Engstirnigkeit mit großer Anschlussfähigkeit an Rassismen, sein moralischer Anspruch zu einer Deutung drohenden Werteverfalls. Der Strukturkonservatismus nährt so ungewollt reaktionären Konservatismus, ein Wutbürger erzeugt den nächsten.
Die zwei Gesichter des Konservatismus und ihre Zukunft
Wo und wie, in diesem breiten konservativen Kontinuum, kann und wird sich eine CDU unter ihrem wiederentdeckten Hoffnungsträger Friedrich Merz aufstellen? Sie wird aller Voraussicht nach nicht vom christlichen Label lassen, auch wenn dies schon lange weniger politischen Kredit einbringt. Aus welcher anderen Traditionslinie sollte Merz denn auch schöpfen? Im Grunde steht die CDU vor dem Grundparadox, dass der Konservatismus als im Kern reaktive Kraft über keine eigene inhaltliche Qualität verfügt. Seine Attraktivität hängt an dem, was er bewahrt, und seine Stärke daran, für wen. Eine unerwartete Chance zur Erneuerung eines mächtigen Konservatismus erwächst ausgerechnet aus der politischen Ökonomie. Die befremdliche Wiederkehr der Inflation in den industriekapitalistischen Gesellschaften seit der Corona-Pandemie könnte sich zur Gelegenheitsstruktur konservativer Renaissance auswachsen. Wie sowohl das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft, als auch die gewerkschaftsnahe Hans Böckler-Stiftung ermittelt haben, treffen die Preissteigerungen keineswegs nur die konservative Stammklientel. Vor allem Kraftstoffe, Haushaltsenergie und Nahrungsmittel haben sich stark verteuert, bei denen die Leute wenig bis keine Ausweichmöglichkeiten haben. Inflation stellt für die Linke stets ein Problem dar, denn unterm Kapitalismus kann sie potentiell immer eine klassenübergreifende, latente ›Stabilitätskoalition‹ wirklich werden lassen. Gerade weil die Leute mangels Zugriff auf die Produktionsmittel nichts an den Ursachen des Kaufkraftschwunds und der sinkenden Vermögenssicherungsqualität des Geldes ändern können, macht sich, wie Marx in seinen ›Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie‹ schrieb, das Geldverhältnis spürbar als »das reale Gemeinwesen, insofern es die allgemeine Substanz des Bestehns für alle ist und zugleich das gemeinschaftliche Produkt aller«. Bei klassenübergreifend empfundener Bedrohung des Gemeinwesens aber schlägt regelmäßig die Stunde des Konservatismus. Wie sonst nur bei fortschrittlichen Angriffen auf Institutionen der Ungleichheit wird die Inflation zur Kulisse für Anrufungen der Stabilität und des Besitzstandeserhalts. Von Linken unterschätzt, hatte der Konservatismus im Zuge der Eurokrise einen wichtigen semantischen Sieg errungen, konnte er doch im diskursiven Universum den abenteuerlichen Mythos von den geringen nominalen Zinsen als ›Enteignung‹ der Sparer erfolgreich platzieren. Was würde dann erst passieren, falls der ökologische Umbau eine unübersehbare ›Greenflation‹ bewirkte? Hieran könnte ein Friedrich Merz allzu leicht als Angriffspunkt ansetzen.
Wahrscheinlich wird man – außerhalb der intellektuellen Denkstuben, in der realen Politik – immer mit mindestens zwei Gesichtern des Konservatismus rechnen müssen. Im eigenen Selbstbild moderiert und managt er den im Kapitalismus unvermeidlich gesellschaftlichen Wandel. Er unternimmt eine Abstimmung der oft widerstreitenden Interessen, wobei er auf die strukturerhaltende Wirkung von Kompromissen achtet. Für eine Politik, bei der jeder ›an seinem Platz‹ bleibt und jede ›bekommt, was ihr zusteht‹ gibt es in der bürgerlichen Gesellschaft absehbar eine nicht unerhebliche Klientel. Nicht erst radikale soziale Bewegungen, sondern bereits die Folgen kapitalistischer Dynamik rufen allerdings mitunter das zweite Gesicht des Konservatismus auf den Plan. Wenn, wie unter Bedingungen der Inflation, der Statuserhalt seiner Klientel und der Systemerhalt insgesamt nicht mehr Nullsummenspiele, sondern nur noch als Minussummenspiele denkbar sind, folgt der Moment der Thatchers, Reagans, Orbáns und Kaczyńskis. Um den sozialen Block zu bewahren, auf den sie sich stützen, müssen sie gegnerische soziale Netzwerke zerstören, soziale und institutionelle Macht radikal zugunsten ihrer Klientel umverteilen. Das erste Gesicht will die Plätze in der Sozialstruktur abschirmen, das zweite soziale Plätze neu zuweisen, bis der konservative Instinkt nichts mehr zu befürchten hat. So könnte sich das Dilemma des Friedrich Merz am Ende darstellen. Legt er das erste Gesicht an, müsste er Besitzstände, Interessen und Lebensweisen moderieren, die nach bald 25 Jahren Rot-Grün, Merkel und Ampel sozialliberaler und ökologischer eingefärbt sind als je zuvor. Wollte sie das zweite Gesicht aufsetzen, müsste die CDU eine Eskalationsbereitschaft an den Tag legen, die man ihr heute kaum noch zutrauen mag. So steht womöglich auch dem bundesdeutschen Konservatismus, ähnlich wie seinen Schwester-Formationen andernorts eine Phase der Ungewissheit bevor und das Warten auf eine Gelegenheit, sich ohne aggressives Vorgehen als bewahrende Kraft anbieten zu können.
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